Die Eltern entscheiden, wann und was auf den Tisch kommt
Ebikon, 29. November 2019 – Dürfen Kinder im Essen rummantschen? Und sich selber am Kühlschrank bedienen? Ernährungsberaterin Sarah Nussbaumer über die Verantwortung der Eltern – und wie es ihnen gelingt, ohne Bauchschmerzen am Familientisch zu essen.
«Klare Regeln und eine entspannte Tischatmosphäre», sagt Sarah Nussbaumer, dipl. Ernährungsberaterin und zweifache Mutter, «dann kommt die Freude am Essen von alleine». Photo: Debora Zeyrek
In der Doku-Serie «Achtung Väter!» von SRF kocht einer der Väter, David, für seine drei Kinder. Zum Essen setzt er die Kinder an den Küchentisch, lässt sie auf dem Laptop einen Film schauen – er isst im Stehen. Den Film lässt er laufen, damit die Kinder runterkommen. Wie beurteilst du das?
Der laufende Bildschirm am Esstisch ist für mich ein absolutes No-Go. Einerseits verstehe ich die Situation: Es ist einfach und attraktiv, einen Film abzuspielen. Anderseits ist es hilfreich, am Familientisch in Ruhe über den Alltag zu sprechen – und so herunterzukommen. Das fördert auch die Sozialkompetenz und die Kinder verarbeiten das Erlebte.
Geht es auch darum, dass Kinder lernen, das Essen zu geniessen?
«Mit allen Sinnen geniessen» heisst eine von fünf Ernährungsbotschaften, die die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung SGE für Kinder ausgearbeitet hat. Man könnte auch sagen: «Beim Essen ist der Bildschirm aus.» Durch den Film sind die Kinder vom Essen abgelenkt. Untersuchungen zeigen, wer abgelenkt ist, isst mehr als gewöhnlich, die sensorische Sättigung liegt tiefer. Die Hunger-Sättigungs-Regulation funktioniert bereits bei Säuglingen und sollte so lange wie möglich beibehalten werden.
Welche Verantwortung tragen Eltern beim Essen, am Familientisch?
Die Eltern entscheiden, wann und was auf den Tisch kommt. Sie bieten dem Kind, je nach Alter, das Essen in geeigneter Form an. Die Kinder bestimmen, wieviel sie davon essen möchten, ob sie überhaupt essen möchten oder erst zur nächsten Mahlzeit wieder. Die Eltern benötigen Kenntnisse über eine gesunde Ernährung und die Fähigkeit zu kochen. Innerhalb der Familie gelten Verhaltensregeln am Tisch, die alle Familienmitglieder einhalten sollen, auch die Erwachsenen. Die Vorbildfunktion und eine angenehme Tischatmosphäre sind sehr wichtig am Familientisch. So kommt der Genuss beim Essen von alleine.
Und wann ist es für Erwachsene angebracht, entspannt zu bleiben?
Immer. Oder sich zumindest nicht anmerken lassen, dass man beunruhigt ist – das merken die Kinder sofort. Der Druck der Eltern erzeugt oft Gegendruck der Kinder oder Appetitlosigkeit. Das kann in Machtspiele ausarten.
Am Esstisch mit kleinen Kindern kann es ganz schön hektisch sein. Du hast selber zwei Kinder, sechs und neun, welche Regeln sind dir besonders wichtig?
Oh, dazu zähle ich verschiedene Tischregeln und Rituale. Es beginnt damit, dass wir die Mahlzeiten gemeinsam einnehmen, angefangen beim Frühstück. Wenn die Eltern nicht frühstücken, warum soll es dann das Kind tun? Weiter geht es mit Händewaschen vor dem Essen und ja, beim Essen bleiben alle Bildschirme ausgeschaltet. Meine Kinder sind es sich gewohnt, zu essen, was auf den Tisch kommt. Natürlich berücksichtige ich ihre Vorlieben beim Kochen. Sie probieren von allem ein bisschen, das ist so abgemacht. Und es schmeckt auch meinen Kindern nicht immer gleich gut. Falls ein Kind das Essen dann mal wirklich nicht mag, das passiert selten, habe ich Reste bereit oder streiche eine Scheibe Brot. Konsequenz und Gelassenheit helfen mächtig in der Ernährungserziehung.
«Du gehst erst vom Tisch, wenn dein Teller leer ist.» Eine gute Tischregel für Kinder oder veraltete Manieren?
Definitiv veraltet. Diese Regel führt zu schlechten Erfahrungen rund ums Essen. Später, im Erwachsenenalter, haben diese Personen noch immer das Gefühl, sie müssen den Teller leer essen. So ist es ja gelernt. Diese Regel bringt die natürliche Regulation vom Hunger und Sättigung durcheinander.
Wie macht man es besser?
Kleine Portionen schöpfen. Auch, damit das Essen nicht im Abfall landet. Falls das Kind selbst schöpft und die Eltern das Gefühl haben, dass es zu viel sei, sollen sie das Kind während dem Schöpfen darauf ansprechen: «Magst du das wirklich alles essen oder willst du lieber etwas weniger nehmen und nachher ein zweites Mal schöpfen?» Kleinkinder stecken da mitten in einer Übungsphase, da können trotzdem Reste übrig bleiben. Die bewahre ich im Kühlschrank auf und biete sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder an.
Und wie steht es mit «du bekommst erst eine zweite Portion Fleisch, wenn du das Gemüse gegessen hast»?
Alle probieren von allem, dank dieser Tischregel genügt in dieser Situation ein Löffel Gemüse. Und ja, das Kind darf danach eine zweite Portion Fleisch. Natürlich müssen die Eltern die Wochenportion Fleisch im Auge behalten. Aber meisten gleichen die Kinder das automatisch wieder aus. Sie spüren sehr gut, was ihnen gut tut. Darauf dürfen die Eltern schon früh vertrauen, mit Ausnahme von Zucker, Süssem und Chips. Die zähle ich eher zu den Suchtmitteln.
Manche Eltern lassen ihr Kind früh selber essen, mit dem Essen rummantschen, andere füttern lieber selber, um eine Sauerei zu vermeiden. Was empfiehlst du?
Spielen ist Lernen, das gilt auch beim Essen. Und dazu gehört auch Rummantschen, sobald die Kinder am Tisch essen, also etwa mit jährig. So können sie das Essen erleben, für sie ist Mantschen gleich Essen-Lernen. Gerade bei sogenannten Schlechtessern hilft es, wenn sie das Essen mit Rummantschen und Fingerfood erleben können. Wirft das Kind sein Essen bewusst auf den Boden, ist dies ein Zeichen, dass es nicht mehr hungrig ist und nur noch damit spielt. Dann kann die Mahlzeit beendet werden, erfahrungsgemäss nach etwa 15 Minuten. Und ab einem gewissen Alter, spätestens ab drei Jahren, gehört es sich dann, nicht mehr zu mantschen.
Wenn sich das Kind vor etwas ekelt, soll es davon probieren?
Grundsätzlich gilt: Alle probieren von allem. Falls sich ein Kind extrem stark vor einem Lebensmittel ekelt, kann man eine neue Regel dazunehmen: Jedes Kind darf drei Lebensmittel wählen, die es nicht probieren muss. Aber aufgepasst, eine sehr starke Abneigung gegenüber einem Lebensmittel kann auch auf eine Unverträglichkeit hinweisen.
Wie lehrt man Kinder, Randen und Rosenkohl zu mögen?
Mit Ausdauer. Gemüse schmeckt eher bitter, die einen mehr, die anderen weniger. Bitter wird zuerst mal abgelehnt, da diese Geschmacksrichtung bereits ab Geburt mit Gefahr und Gift gleichgesetzt wird. Das Kind muss jedes Lebensmittel zuerst kennenlernen, genauso die verschiedenen Konsistenzen. Dahinter steckt ein längerer Lernprozess, der von den Eltern viel Geduld fordert. Das heisst konkret: Immer wieder anbieten und probieren lassen. Nach fünfzehnmal Rosenkohl probieren, schmeckt dieser plötzlich vertraut. Im besten Fall mag das Kind dann Rosenkohl gerne oder kann ihn später in Gesellschaft zumindest ohne Würgereiz essen.
Gehören Nutellabrot und Chips zu einem unbeschwerten Umgang – oder sind sie nur ungesund?
Auch ungesunde Lebensmittel wie Nutellabrot oder Chips gehören zu einem gesunden Essverhalten. Süsses und salzige Nahrungsmittel stellen die Spitze der Lebensmittelpyramide der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung dar. Der Körper braucht diese nicht, aber für den Genuss sind sie in kleinen Mengen immer wieder mal notwendig. Wird diese Lebensmittelgruppe verboten, führt dies früher oder später zu einem kompensatorischen Essverhalten und der unbeschwerte Umgang mit dem Essen ist vorbei. Auch zu viele aufs Mal ausgesprochene Interventionen können den unbeschwerten Umgang mit dem Essen ungünstig beeinflussen. Besser beobachten Eltern im Hintergrund und greifen weniger oft, dafür ganz gezielt, in das Essverhalten des Kindes ein.
Ab wann dürfen sich Kinder selbständig am Kühlschrank bedienen?
Nie, sie sollen immer vorher fragen. Oder so spät wie möglich. In der Realität vielleicht ab dem Jugendalter und in gewissen Familienkonstellationen vielleicht schon früher. Solange es für alle Beteiligten stimmt und eine gesunde Ernährung eingehalten werden kann, ist das auch okay.
Wie sollen Eltern mit Süssigkeiten umgehen?
Meistens kann man das erste Kind noch lange fern halten von Zucker. Sobald es eingeschult ist, kommt man um die Süssigkeiten nicht mehr herum. Sie sind allgegenwärtig. Es gibt geeignetere und weniger geeignete Süssigkeiten. Damit das Ungesunde nicht überhandnimmt, braucht es klare Regeln wie «Chips und Sirup gibt es nur an Festen» oder «Nutellabrot essen wir nur in den Skiferien». Zudem eignet sich eine Süssigkeiten-Box, da packen Kinder ihre Süssigkeiten rein, die sie an Kindergeburtstagen erhalten und können sie zu gegebener Zeit mit Mass geniessen.
Muss man eingreifen, wenn ein Kind sich entscheidet, VegetariererIn oder gar VeganerIn zu sein?
Da die Kinder noch im Wachstum sind, ist es besonders wichtig, dass sie möglichst keine Nährstoffdefizite aufweisen. Eine vegetarische Ernährung kann den Nährstoffbedarf gut abdecken, sofern diese abwechslungsreich ist und das Fleisch sinnvoll ersetzt wird. Es braucht gute Ernährungskenntnisse. Untersuchungen zeigten, dass folgende Nährstoffe bei VegetarierInnen teilweise zu wenig abgedeckt sind: Eisen, Jod, Zink, Selen, Vitamin D und Omega-3-Fettsäuren. Bei Veganern zählen zusätzlich Calcium, Selen, Vitamin B2 und B12 sowie Proteine dazu. Vitamin B12 wird von VeganerInnen häufig alle drei Monate gespritzt, da sie den Bedarf über die Ernährung unmöglich abdecken. Deshalb empfehle ich den Eltern, sich bei der KinderärztIn zu informieren und allenfalls eine Ernährungsberatung aufzusuchen, vor allem bei einer veganen Ernährungsform. Oft hilft es, wenn die Kinder oder Jugendlichen die Informationen von einer neutralen Person hören. Zusätzlich bestimmt die KinderärztIn einige Laborparameter, unter anderem den Vitamin-B12-Spiegel.
Gibt es ein Kochbuch, das du Eltern empfiehlst?
Die Globi-Kochbücher finde ich super für Kinder, besonders «Globis Schweizer Küche». In diesem Buch kocht Globi traditionelle Rezepte von Köchen aus allen Kantonen nach, einfach, mit Bildern Schritt für Schritt erklärt. Auch in Kinder- und Jugendzeitschriften gibt es gute Rezepte, wie im Spick. Was Kinder selber kochen, schmeckt ihnen besonders gut. So macht es nicht nur Freude, mit den Kindern Figuren aus Früchten und Gemüse zu schnitzen – die Rüebli-Flöte oder die Birnen-Maus schmecken ihnen einfach besser als eine Karotte oder Frucht.
Sarah Nussbaumer ist dipl. Ernährungsberaterin FH SVDE, hat lange am Kinderspital Zürich gearbeitet. Danach war sie selbständig tätig; in einer Kinderpraxis und in Arztpraxen für Erwachsene, jetzt beginnt sie eine neue Stelle in einer Rehaklinik.
An der Heilpraktikerschule Luzern unterrichtet Sarah Ernährungspathologie Basis, Diätformen und Ernährungspädagogik.
Als Fach- oder Kurzausbildung: vier Diätetik-Ausbildungen bietet die Heilpraktikerschule Luzern an, in den Fachrichtungen TEN, TCM und Ayurveda.
Empfehlungen und Merkblätter, wie Kinder ausgewogen essen und trinken, gibt es auf der Webseite der SGE.
Mehr zu Kindern in unserem Kinder-Dossier.
Und wie man Karotten in Flöten und Birnen in Mäuse verwandelt: Hier geht’s zu den Schnitzanleitungen der Schule Gansingen.