Den eigenen Wesenskern sichtbar machen

Ebikon, 13. Oktober 2025 — Sich für etwas Neues entscheiden, z.B. einen neuen Beruf. Soll ich oder soll ich nicht? Braucht es Mut? Eine Vision? Unsere Sozialwissenschaft-DozentInnen geben Antwort: Franziska Bischof-Jäggi, Karin Tanner und André Gassmann.

Bild einer Wunderkerze, die vor dem Nachthimmel abbrennt. Bild: unsplash

Vielleicht wäre das Neue, das Unbekannte, das Wagnis – vielleicht wäre das nur ein kleiner Funkenzauber. Vielleicht. Dein Wesen, deine Vision, das entscheidet. Bild: Unsplash

Wir fragen unsere M4-DozentInnen Franziska Bischof-Jäggi, Karin Tanner und André Gassmann. (M4? Das sind Kurse, die eine gute Dosis Psychologie und Sozialwissenschaft enthalten, unentbehrlich für jede PraxisinhaberIn und jede TherapeutIn und eigentlich auch alle und jeden und jede.) Spoiler: Es geht um den eigenen Wesenskern.


Franziska Bischof-Jäggi, du bist Psychologin. Aus deiner psychologischen Sicht, wie ist das: Welche Motive treiben Menschen dazu, etwas Neues zu wagen? Leidensdruck im Job? Pure Freude an was Neuem?

Oh, wenn es so einfach wäre und ich dir eine eindeutige und klare Antwort geben könnte. Das Leben ist vielfältig, und die Menschen erst recht. Es gibt tausend-und-einen Grund, Neues zu wagen. 

Jeder Grund, etwas Neues zu wagen, ist also individuell?

Ja! Manche Menschen lieben das Neue und suchen deshalb immer wieder nach Challenges. Sie haben erfahren, dass Neues sie wachsen lässt – persönlich und fachlich. Und es gibt Menschen, die sich erst dann an Neues wagen, wenn sie einen Leidensdruck verspüren und erkannt haben: So geht es nicht mehr weiter. Das sind vielleicht eher die Menschen, die die Erfahrung gemacht haben, dass ein Risiko einzugehen eben auch ein Scheitern bedeuten kann.

Also, die einen wollen wachsen, die anderen weg vom Leidensdruck. Scheitern können beide.

Ja. Doch ganz ehrlich: Woraus lernen wir am meisten? Nicht wirklich aus unseren Erfolgen und Highlights, sondern auf dem Weg der uns dahinführt! Und dieser Weg ist tatsächlich nicht immer nur linear. Heisst, er richtet sich nicht immer nach unseren Erwartungen aus, sondern hat, positiv gesagt, etwas zu bieten. Und das ist doch toll so, denn das hält unser Leben vielfältig, aktiv und hält uns agil!

Manche, die neu starten, verantworten ganze Abteilungen, riesige Budgets, sind auch nicht mehr jung. Wie geht das, so viel Mut zu haben?

Ja, das ist eine spannende Frage, und die sollten wir häufig genauso unserem Gegenüber stellen: «Wann bist du mutig und wieso? Und wie nährst du deinen Mut? Was für tolle Erfahrungen hast du in deinem Leben gemacht, weil du mutig warst?» Im Zuhören dann und in der Diskussion darüber ergeben sich so viele Learnings fürs eigene Leben. Wir Menschen sind soziale Wesen und lernen von- und miteinander. Das ist spannend und bereichernd und genau deshalb pflegen wir ja Netzwerke und Freundschaften, weil sie uns nähren. Aber zurück zu deiner Frage: «Wie geht das, so viel Mut zu haben?» Wir müssen nicht immer sehr viel Mut haben. Wir müssen nur in dem Moment, der für uns entscheidet, Mut haben, und zwar etwas mehr, als uns die Angst bremsen will.

Und wie reiflich soll man sich das überlegen? Ciao, drauflos! Oder Schritt für Schritt?

In Bezug auf alltägliche Entscheide bitte ja: Ciao drauflos und etwas wagen! Ob ich nun diese oder jene Pizza bestelle, ob ich nun das Fahrrad in anthrazit oder doch eher in blau kaufe, das sind Entscheide, die uns nicht absorbieren dürfen. Tatsächlich entscheiden erfolgreiche Menschen sehr schnell und entschlossen.

Und hinsichtlich nicht so Alltäglichem?

Da, also in grossen Dingen wie einer Ausbildung, die das Leben organisatorisch doch verändert, lohnt es sich, sich selbst gute Argumente zurechtzulegen. Denn meist kommt zwischendurch mal eine Hängerphase, in der man sich überlegt, ob das wirklich der richtige Entscheid war. Dann können genau diese Argumente hilfreich sein, wenn man sie sich wieder vor Augen führt. 

Hast du eine Buchempfehlung zum Thema?

Da gibt es einige, auch sehr aktuelle. Ich geb dir trotzdem eine etwas ältere Empfehlung, das Buch ist von 2011: «Die Kunst des klaren Denkens. 52 Denkfehler, die Sie lieber andern überlassen» (externer Link), von Rolf Dobelli. Er beschreibt diese Fehler schön anekdotisch und vergnüglich. Zum Beispiel, dass wir SchweizerInnen oft nicht sehr mutig sind. Zuerst wollen wir alle Risiken kennen und nochmals und nochmals über die Risiken sinnieren und in der Zeit geht die ganze Visions- und Innovationskraft verloren. Also: Mehr Mut! Mehr Leben! Mehr Freude! 

Danke, Franziska!



André Gassmann und Karin Tanner, ihr unterrichtet Sozialwissenschaftliches und habt euch mit dem Thema Entscheidungen intensiv auseinandergesetzt. Also, die Frage: Vielleicht haben wir alle so eine Art zweites Ich: dass man sich ein alternatives Leben vorstellt, z.B. als GärtnerIn, BiobäuerIn, PilotIn, ÄrztIn. Wie entscheidet man, ob man tatsächlich zu diesem zweiten Ideal-Ich wird? Die Dinge angeht, den Traum in Realität verwandelt?

Wir würden den Begriff «zweites Ich» nicht so sehr verwenden. Für uns ist es weniger ein zweites Ich, das plötzlich auftaucht, sondern eher ein Sichtbarwerden des eigenen Wesenskerns. Viele Menschen leben lange nach dem Bild, das andere von ihnen haben. Irgendwann kommt der Punkt, an dem dieses Fremd-Bild nicht mehr trägt. Dann bricht etwas durch: nicht eine neue Persönlichkeit, sondern mehr vom eigenen, wahren Kern.

Und ist das ein rationaler, gut durchdachter Vorgang?

Naja. Entscheidungen entstehen selten im Kopf. Der Kopf rechnet Risiken, Chancen, Sicherheit. Aber die entscheidende Bewegung – ob jemand den Traum wirklich angeht – passiert im Körper, im Nervensystem, im Gefühl. Die entscheidende Frage ist nicht «Kann ich das?» oder «Darf ich das?». Vielmehr ist die entscheidende Frage: «Bin ich Schicht für Schicht bereit, die jetzige Haut abzustreifen, auch wenn ich die nächste noch nicht kenne?»

D.h. loszugehen, ohne haargenau zu wissen, was alles noch schiefgehen kann – oder wie viel Schönes dabei sein kann?

Wir sehen immer wieder: Menschen brauchen eine Vision. Ein Bild davon, was sie erreichen wollen. Diese Vision wirkt wie ein Magnet – sie zieht an, gibt Richtung und macht mutig. Denn wenn die Vision gross genug ist, sind wir Menschen auch bereit, unbequeme Entscheidungen zu treffen, Hindernisse zu überwinden und den Weg wirklich unter die Füsse zu nehmen. Genau dann zeigt sich der Wesenskern, die Intuition wird lauter, die Verbindung mit der eigenen Seele spürbarer.

Wenn jemand von einem neuen Beruf träumt – was sind eure konkreten Empfehlungen?

Unsere Empfehlung für Menschen, die von einem neuen Beruf träumen, ist deshalb:

  1. Innere Standortbestimmung: Ehrlich hinschauen, wo du im Moment stehst – nicht nur beruflich, sondern auch emotional und energetisch.
  2. Vision klären und verkörpern: Was ruft dich wirklich? Und: Erlaube es dir, diese Bilder tatsächlich zuzulassen. Und dann setze erste Schritte, die deine Vision erlebbar machen.
  3. Den Übergang bewusst gestalten: Veränderungen brauchen Struktur. Nicht blinder Sprung, aber auch kein endloses Warten – Brücken bauen, Netzwerke aufbauen, erste Erfahrungen sammeln.

Mut ist dann kein heroischer Akt, sondern das Ergebnis von Kohärenz und Ausrichtung. Wenn Kopf, Herz und Bauch ihren Beitrag leisten, wird der Schritt fast unausweichlich.

Habt ihr eine Buchempfehlung? Oder Film- oder Podcast-Empfehlung?

  • Michael A. Singer: «Das Leben wagen» (externer Link) – ein tiefgehendes Buch über Hingabe und Vertrauen ins Leben. Singer zeigt, wie wir uns aus inneren Begrenzungen lösen können, wenn wir lernen, uns nicht gegen das Leben zu stemmen, sondern mit ihm zu fliessen.

Und eine Podcast-Empfehlung haben wir, mit Verlaub, wenn wir dürfen, unser eigener:

  • «Fein & Fühlig» – der Podcast von Karin Tanner und André Gassmann (externer Link) über Wahrnehmung, Intuition und Business mit Seele. Persönlich, ehrlich und praxisnah – für Menschen, die ihren Weg klarer, leichter und verbundener gehen möchten.

 

Danke euch allen.

Gern, Martin.

Portraitbild von Franziska Bischof-Jäggi, das Bild haben wir selbst gemacht.

Franziska Bischof-Jäggi, lic. phil.

Franziska ist Pädagogische Psychologin, dipl. Paar- und Familientherapeutin sowie Buchautorin. An der Heilpraktikerschule Luzern unterrichtet Franziska Bischof-Jäggi zum Beispiel Lernen – Entwicklung – Persönlichkeit und Umgang mit anderen und sich selbst. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Felix Jäggi ist sie Inhaberin der Powermanagement GmbH:
www.powermanagement.ch 

Karin Tanner und André Gassmann

Karin Tanner hat sich im Coaching auf Intuition und Wahrnehmung spezialisiert, ist Co-Entwicklerin der Neuromagie®. An der Heilpraktikerschule Luzern unterrichtet sie Kommunikation & Interaktion. Sie ist Co-Ressortleiterin M4, also der sozialwissenschaftlichen Grundlagen. Ihr Tipp: Täglich beim Aufwachen Danke sagen. Das lässt uns mit Dankbarkeit durch den Tag gehen.

André Gassmann: MAS Communication Management, PR-Fachmann, Zeremonie- und Ritualleiter, Synergie-Coach, eigene Praxis für Coaching und Beratung.

Die beiden arbeiten zusammen:

www.dieheldenfluesterer.ch 

https://heilpraktikerschule.ch/newsroom/news-detail/news/2025/09/01/den-eigenen-wesenskern-sichtbar-machen