Die Lunge ist die Meisterin des Qi

Ebikon, 18. März 2024 — Atmen, Teil 3: TCM-Dozent Thomas Feer führt uns mithilfe von Atemübungen wie der Wechselatmung durch's Leben: Prüfungsstress, Einschlafen, Aufwachen, Rauchen.

Foto einer jungen Frau beim Schlafen in der Hängematte. Bild: Unsplash

Besser einschlafen, schneller aufwachen, dazu gibt es Atemübungen. Die Lunge gewinnt die Energie Qi und verteilt sie an alle anderen Organe. Sie ist die Meisterin des Qi. Bild: Unsplash

Thomas Feer, wir haben die Vorteile von Bauchatmung* und Nasenatmung** besprochen. Sozusagen den Alltag der Atmung. Jetzt gibt es ja auch Atem-Übungen für spezielle Situationen. Sagen wir bei Stress, Prüfungsstress.

Jetzt muss ich dich enttäuschen. Denn auch da wirkt die ganz normale, ruhige und tiefe Bauchatmung, und zwar genial. Sie aktiviert den Parasympathikus, sie entspannt also, und zudem steigert sie die Konzentration, indem sie die Sauerstoffaufnahme erhöht, was man für eine Prüfung ideal gebrauchen kann. Tatsächlich gibt es auch verschiedene Atemübungen und für dich habe ich da natürlich auch eine.

Dann hast du mich ja gar nicht enttäuscht, sehr gut!

Du erinnerst dich noch, wenn wir über den Mund ausatmen, bauen wir Spannung ab. Daher ist es bei Nervosität oder Prüfungsstress ideal, über den Mund auszuatmen. Genauso, wie wir das z.B. in den QiGong-Übungen der sechs heilenden Laute anwenden: Atme zunächst ein paar Mal ruhig durch die Nase ein und aus. Danach ruhig und tief durch die Nase einatmen und beim Ausatmen gibst du durch den Mund ein sanftes «ssss» von dir. Wie wenn bei einem Ballon ganz langsam Luft ausströmt. Genauso sollst du dich auch fühlen. Die Spannung, der Druck fallen ab, lassen nach.

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Und wenn es nicht nur Nervosität, sondern schon eher eine Angst ist?

Auch hier gilt eigentlich dasselbe. Du kannst die Bauchatmung aber intensivieren, indem du die Hände auf den Bauch legst und wahrnimmst, wie beim Einatmen die Bauchdecke sich anhebt und beim Ausatmen wieder senkt. Der Fokus sollte auch hier wieder beim Ausatmen sein, weil es das Ausatmen ist, das mehr beruhigt. Atme also möglichst ruhig und lange aus, bis du voll ausgeatmet hast. Dann warte kurz, bis das Einatmen wieder von alleine einsetzt. Bei Angst atmet man meist aktiv und in immer kürzeren Abständen ein. Im Extremfall beginnt man zu hyperventilieren, was die Erregung noch mehr erhöht. Generell hilft es, den Atem ganz bewusst zu spüren, so kommt man vermehrt ins Hier und Jetzt und steigt aus dem Gedankenkarussell aus.

Du hast im Beitrag über die Bauchatmung erwähnt, dass die Atmung wie ein Messinstrument und ein Werkzeug ist. Somit könne man beobachten, wie man in einer emotionalen Lage atmet; das wäre das Messinstrument, um zu sehen, wie es mir jetzt geht. Und man könne in angespannten Situationen ruhiger und länger ausatmen, um zu entspannen. Das wäre das Werkzeug. Ist das so simpel?

Ja, vereinfacht gesagt ist das richtig. Meist braucht es etwas Übung in ruhigen Situationen, damit man das dann im Ernstfall kann. Das Einatmen verstärkt ja den Spannungsaufbau, und das Ausatmen verstärkt den Spannungsabbau. So erklärt sich vielleicht einiges: Lachen entspannt, da der Fokus beim kraftvollen, rhythmischen Ausatmen liegt. Nervosität besteht hingegen eher aus hastigen, flachen Atemzügen, was eher den Sympathikus anregt, also den Gegenspieler des entspannenden Parasympathikus. Bei Angst stockt der Atem, bei Schreck bleibt er stehen. Und wenn du wütend wirst, atmest du vermehrt ein und wahrscheinlich hältst du nach dem Einatmen den Atem an, was die Spannung wieder vermehrt, z.B. zeigt sich das manchmal auch in Schulter-Nacken-Verspannungen.

Und wie atmet man sich glücklich?

Versetze dich in einen Glücksmoment und spüre, wie du atmest… Du atmest mit ruhigen, tiefen und langen Atemzügen. Auch das kannst du bewusst stärken.

Spannend. Aber wie sieht es denn bei einer unserer Volkskrankheiten, dem hohen Blutdruck aus? Wobei auch da ahne ich deine Antwort schon… ruhige, tiefe Bauchatmung, stimmts?

Ja tatsächlich. Auch hier unterstützt die ruhige und tiefe Bauchatmung das Krankheitsbild sehr positiv. Diese Atmung sollte möglichst zur Gewohnheit werden. Es gibt noch weitere, spezifischere Atemübungen, so z.B. eine sehr bekannte Übung, die Wechselatmung.

Das hört sich nach Yoga an.

Ja, die regelmässig praktizierte Pranayama-Wechselatmung fördert die Verbindung der linken und rechten Gehirnhälfte, entspannt die Nerven und stärkt somit auch die Konzentrationsfähigkeit. Zudem kann sie die Lungenfunktion verbessern und eben auch den Blutdruck und die Herzfrequenz senken.

Und wie funktioniert sie?

Halte dir das rechte Nasenloch mit dem rechten Daumen der rechten Hand zu und atme über das linke Nasenloch ruhig und langsam ein. Danach drückst du mit dem rechten Ringfinger sanft das linke Nasenloch zu und atmest über das rechte Nasenloch ruhig aus.

Das braucht etwas Ringfinger-Training…

… ja, ein wenig, am Anfang. Dann atmest du über das rechte Nasenloch wieder sanft ein, bevor du wiederum mit dem Daumen das rechte Nasenloch zudrücken und über die linke Öffnung ausatmest… dann wieder links ein, rechts aus, rechts ein, links aus, links ein… wiederhole diese Übung sechs, neun oder zwölf Mal. Der letzte Atemzug sollte links ausatmend sein. Danach wieder normal, ruhig und tief über beide Nasenöffnungen atmen.

Muss da nicht eine gerade Zahl sein, wenn man links ausatmen soll zum Schluss?

Nein, du zählst immer den ganzen Zyklus als einen Durchgang.

Hmmm… da dachte ich, Atmen wäre ein langweiliges Thema. Aber kommt es wirklich darauf an, über welches Nasenloch man ein und ausatmet?

Ja, es ist erstaunlich. Physiologisch öffnet sich rund alle zwei Stunden das eine oder andere Nasenloch etwas mehr oder eben weniger. Beobachte doch jetzt mal, durch welche Öffnung du mehr atmest. Das ist ein Wechselspiel. In der TCM sprechen wir von Yin und Yang. Auch damit kann man wieder spielen und diesen Effekt in Atemübungen einbauen.

Und wieso über links am Schluss ausatmen? Das hat wohl auch mit Yin-Yang zu tun?

Ja, wenn du am Schluss über die linke Seite ausatmest, fokussierst du das Yin, das Beruhigende mehr. Und das wollen wir ja, z.B. bei Bluthochdruck.

Und was hilft bei Einschlafproblemen? Halte ich mir da die rechte Nase zu, damit ich nur das Yin aktiviere und ruhiger werde?

So ganz unrecht hast du nicht. Da gebe ich dir ein paar Hausaufgaben. Lege dich mal am Abend auf die rechte und dann auf die linke Seite und achte nach einer Weile darauf, welches Nasenloch mehr offen ist. So beantwortest du dir deine Frage selbst. Denn wenn wir auf einer Seite liegen, öffnet sich immer ein Nasenloch etwas mehr.

Okay, das probiere ich aus. Und was machen RückenschläferInnen?

Die Kastenatmung. Diese Atemtechnik kann sehr gut «entstressen» und hilft ruhig und übrigens auch konzentriert zu bleiben. Bei dieser Kastenatmung kommt es zu einem verlängerten Ausatmen, das steigert die Aktivität des Parasympathikus, was auch zum Einschlafen gut eingesetzt werden kann.

Und wie geht diese Kastenatmung?

Atme ruhig ein und zähle dabei auf vier. Dann die Luft anhalten und ebenfalls bis vier zählen, bevor du wieder ruhig ausatmest – dabei aber auf sechs zählst. Halte dann die Luft wiederum kurz an, zähle dabei auf zwei. Davon machst du wiederum sechs, neun oder gar zwölf Durchgänge.

Das muss man wohl gut üben. Es hört sich etwas kompliziert an. Und bekomme ich da nicht Atemnot?

Sehr guter Punkt. Wichtig ist natürlich, dass das Atmen nicht zu einem Stress wird. Wenn die Zyklen zu lang sind, zählst du etwas schneller oder nur auf drei statt auf vier. Wenn du übst, kannst du die Zyklen aber bald gut einhalten.

Ja und jetzt meine ganz persönliche Tausend-Dollar-Frage: Wie werde ich am Morgen schnell wieder wach? Oder auch unter Tags?

Am Morgen empfehle ich dir, zuerst mal tief durchzuatmen und dich zu strecken, wie es Kleinkinder oder auch Tiere so schön vormachen. Etwas später oder dann unter Tags gibt es eine kurze Atemübung zum Aktivieren. Atme tief ein, halte nach dem Einatmen den Atem für einige Sekunden an. Dabei spannst du von Kopf bis Fuss alles an. Dann atmest du stark aus und löst die ganze Spannung schlagartig wieder auf. Lass dabei alles los. Das machst du dreimal. Dieses Spannen-Entspannen hilft auch, Blockaden zu lösen und Konzentration und Leistungsfähigkeit zu fördern. Zudem bringt diese Übung deine Aufmerksamkeit zurück ins Hier und Jetzt.

Danke, das hört sich sehr gut an!

Diese oder ähnliche Atemübungen helfen, die Energie zu mobilisieren und dich im Moment leistungsfähiger zu machen. Das machen auch viele SportlerInnen direkt vor einem Wettkampf. Sie atmen forciert ein paar Mal tief ein und aus, das aktiviert und baut eine gewisse Spannung auf. Für einen langfristigen Energieaufbau braucht es primär die ruhige und tiefe Bauchatmung. Und diese forcierte Atmung ist nicht zu verwechseln mit der Pressatmung beim Krafttraining.

Pressatmung soll ja auch nicht gesund sein, habe ich gehört? Vielleicht hast du noch einen Tipp für Leute, die Krafttraining machen, z.B. Bankdrücken?

Ja, die Pressatmung sollte man da vermeiden. Kurzfristig steigert sie zwar die Kraftentfaltung, aber gleichzeitig steigt die Konzentration von Kohlenstoffdioxid und Laktat im Blut, wenn bei einer Anstrengung der Atem angehalten wird. Das übersäuert die Muskulatur und reduziert somit die Leistung. Auch der Blutdruck steigt durch gepresstes Atmen rasch an. Besser ist es, beim Heben des Gewichts bewusst und langsam auszuatmen, hier darf man auch durch den Mund ausatmen, und nach der Anstrengung, also beim Senken, wieder kontrolliert, langsam einzuatmen, möglichst durch die Nase.

Wenn du schon von Sport sprichst, wie es denn mit dem Seitenstechen beim Joggen?

Meist kommt das Seitenstechen, weil man den Atem zu stark kontrollieren möchte. In der Regel reguliert sich der Atem auch beim Ausdauertraining von alleine. Bei Seitenstechen hilft es, bewusst auszuatmen. Und vielleicht reduziert man das Lauftempo vorübergehend ein wenig.

Warum kann es sein, dass das Atmen so viele Wirkungen zeigen kann? Was ist da die Erklärung? Vielleicht auch nach TCM?

Der Atem verbindet verschiedenste Ebenen in und um uns. Einerseits verbindet er die Aussenwelt mit unserer Innenwelt. Er verbindet gewissermassen das sympathische und das parasympathische Nervensystem, er verbindet unseren Körper mit unserer Psyche, mit unseren Emotionen und unserem Geist. Daher hat er wohl so viele Einflussgebiete. Aus TCM- bzw. energetischer Sicht ist der Atem eine unserer Hauptenergiequellen. Ohne zu atmen, überleben wir nicht lange. Zudem zählt die Lunge als Meisterin des Qi. Sie ist hauptverantwortlich für das Verteilen der Energie und hat durch die Energiegewinnung und Verteilung einen direkten Einfluss auf alle anderen Organe. Übrigens auch auf unseren Shen, das ist der geistige und emotionale Anteil von uns. In der TCM sprechen wir zudem von der Körperseele Po, die der Lunge zugeordnet ist. Po ist gewissermassen der Architekt unseres Körpers, unser Überlebenstrieb und Instinkt.

Puuh, da gäbe es ja viel zu wissen, das macht ja ganz neugierig. Da kommt mir das Rauchen in den Sinn. Ist Rauchen auch eine Art Atemübung?

Okay, schauen wir uns mal aus energetischer Sicht an, was beim Rauchen passiert. Zigaretten sind aus TCM-Sicht scharf, trocknend und wärmend. Das heisst, sie wirken aktivierend. Über einen längeren Zeitraum, durch die trocknende Wirkung, führt das Rauchen zu Lungen-Yin-Mangel. Das Inhalieren bringt Hitze tief in den Körper. Das bewegt und kann vorhandene Feuchtigkeit – was sich z.B. als Lethargie, Trägheit, Unklarheit anfühlen kann – scheinbar auflösen. Das erleichtert kurzfristig und bringt Schwung. Wir sprechen in der TCM auch davon, dass Rauchen das Yi, das kognitive Denken, stärkt. Das erklärt sich durch die wärmende, aktivierende und austrocknende Wirkung, die die verschleiernde Feuchtigkeit scheinbar eliminiert. So kann Rauchen tatsächlich helfen, sich etwas besser zu konzentrieren, aber nur kurzfristig.

Wenn du kurzfristig sagst, kommt da wohl noch … langfristig?

Ja. Denn in Wirklichkeit wird die bestehende Feuchtigkeit relativ rasch in zähen Schleim umgewandelt. Daher haben RaucherInnen, die über einen längeren Zeitraum rauchen, sowohl einen Yin-Mangel als auch Schleim, was sich in der typischen, chronischen Bronchitis zeigen kann. Dies führt schlussendlich zu noch mehr Stagnationen und innerer Hitze, die sich als Unruhe anfühlt. Übrigens, dass viele, die mit dem Rauchen aufhören, etwas zunehmen, ist ein Effekt der austrocknenden Wirkung des Rauchens, die nun wegfällt.

Gibt es Atemübungen, die ich statt Rauchen machen kann? Die mich beim Rauch-Stopp unterstützen?

Grundsätzlich hilft auch hier, den Atem immer bewusster wahrzunehmen, um Energie aufzubauen, sich zu entspannen, sich zu aktivieren… also die Bauchatmung, das Spannen-Entspannen, die Wechselatmung. Die Ballonatmung: tief einatmen und mit sanftem «ssss» ausatmen. Da hilft es evtl. auch, bei sich persönlich zu schauen, welche Auswirkungen es hat, wenn man auf die gewohnte Zigarette verzichtet, verzichten muss. Dabei entdeckt man unter Umständen eine gewisse Atemweise, oder auch gewisse Emotionen – ein Messinstrument. Und dementsprechend kann man gezielt entsprechende Atemübungen anwenden, um dem entgegenzuwirken – ein Werkzeug.

Danke, Thomas, ich geh mal «ssss» machen jetzt.

Gern, Martin.

Portraitfoto von Thomas Feer, TCM-Dozent. Foto: Heilpraktikerschule Luzern

Thomas Feer ist Naturheilpraktiker mit eidg. Diplom in TCM (Akupunktur), zusätzlich diplomiert in Diätetik, Phytotherapie West-TCM, Shiatsu, medizinischem QiGong; ebenso ist er Inhaber und Lehrer der Kampfkunst-Schule KUSHIDO in Stansstad NW; an der Heilpraktikerschule Luzern unterrichtet er TCM. Er wohnt mit seiner Familie in Nidwalden. In Stans NW führen er und seine Frau Olivia Feer-Amstad auch ihre Praxis:
www.naturheilpraxis-nidwalden.ch 

Die Grundlagen der TCM

Der Einstieg: 5 Elemente, 14 Meridiane, 1001 Aha

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