«Prägende Lebenssituationen enthalten immer auch ein Geschenk»
Ebikon/Wien, 1. Juli 2022 – Unfall, Trauma, degenerative Erkrankungen: Diese Beschwerden sowie der Umgang mit möglichen Einschränkungen belasten auch emotional. Shiatsu unterstützt die persönliche Weiterentwicklung, die bei solchen prägenden Lebensituationen nötig wird. Mike Mandl hat jahrelang mit Shiatsu in Reha-Kliniken behandelt, hier ist er im Interview.
Mike Mandl, rechts, über Shiatsu: den Fokus auf die Wasseroberfläche, die alltäglichen Wellen legen. Oder sich auf die großen Unterwasserströmungen ausrichten – und Veränderung über diese Strömungen ermöglichen. Foto: zVg
Mike, was hat etwas Körperliches, sagen wir ein Bandscheibenvorfall, mit Identität, mit persönlicher Entwicklung zu tun?
Zum einen verbinden wir unser Selbstbild natürlich mit unserem Körper und mit unseren alltäglichen Handlungen. Ein Trauma kann dazu führen, dass sich unser Körperbild und unser Handlungsspielraum stark verändern, sogar von einem Moment auf den anderen. Diese rasche wie einschneidende Veränderung ist natürlich auch psychisch eine große Herausforderung.
Und da spielt dann die persönliche Entwicklung hinein.
Ja, der Umgang mit Einschränkungen und Schmerzen ist ein persönlichkeitsbildender Lernprozess, der mit vielen Unsicherheiten und Ängsten einhergeht. Wer bin ich noch, wenn ich dies und das nicht mehr tun kann? Wie leicht fällt es mir, Hilfe anzunehmen, mir eine Hilflosigkeit einzugestehen? Wieviel Geduld kann ich aufbringen? Kann ich mich neu orientieren? Ist mein Körper mein Freund? Oder mein Feind? Das sind wichtige Fragen auf diesem Weg.
Das hört sich nach unserer westlichen Trennung von Körper und Geist an.
Und genau damit beschäftigen wir uns in diesem Kurs intensiv, mit der östlichen Perspektive, die ja Körper und Geist so oder so als eine Einheit sieht: Eine Änderung auf der einen Ebene führt automatisch zu Auswirkungen auf der anderen Ebene. Dieses Prinzip können wir hervorragend in unseren Behandlungen einsetzen, um den Erfolg zu optimieren. Indem wir auch den Geist adressieren, um den Körper zu unterstützen.
Inwiefern trägt Shiatsu zur Rehabilitation mehr bei als ein Geräte-Training? Und inwiefern sind Menschen nach einem Unfall und dann nach der Rehabilitation andere Menschen?
Rehabilitation sollte weit mehr sein als eine funktionale Wiederherstellung bestimmter Körperfunktionen. Prägende Lebenssituationen beinhalten immer auch ein Geschenk, selbst wenn dieses im ersten Moment nicht leicht zu erkennen ist. Das Geschenk ist das Angebot zur Kursänderung. Denn oft ist es ja ein bestimmter Kurs, der uns in eine bestimmte Lebenssituation gebracht hat. Das gilt nicht immer für Unfälle, sehr wohl aber für die meisten Formen degenerativer Beschwerden. Von daher ist es sehr empfehlenswert, die Auszeit der Rehabilitation auch für eine bewusste Reflexion und Innenschau zu verwenden. Diesen Aspekt deckt Shiatsu wesentlich besser ab als ein Geräte-Training.
In deinem Kurs «Shiatsu und Rehabilitation» lernen die TeilnehmerInnen, dass es Muster gibt zwischen bestimmten Symptomen und zugrundeliegenden energetischen Strukturen. Hast du ein kleines Beispiel zum Neugierig-Machen?
Wir haben 25 Jahre eng und intensiv mit einer Reha-Klinik zusammengearbeitet. Dort haben wir alle Fälle übernommen, bei denen die klassischen Herangehensweisen wenig Erfolg zeigten. Als Beispiel: Man kann schon beobachten, dass eine Form von Unsicherheit zu einem erhöhtem Kontrollbedürfnis führt. Denn Kontrolle gibt Sicherheit. In der Traditionellen Chinesischen Medizin wird der Dickdarm-Meridian als unsere oberste Kontrollinstanz gesehen und sein Verlauf zieht direkt über die Schultern. Ein Übermaß an Kontrolle bedingt aber auch, dass es oft schwerer fällt, los oder locker zu lassen. Das kann zu einer erhöhten Spannung im Schulterbereich bis hin zum Impingement-Syndrom führen.
Verspannungen an der Schulter, das kennen ja viele.
Ja, und bei dieser Form von Schulterthematik arbeiten wir dann gerne an den Füßen. Weil diese für unsere Grundsicherheit stehen. Die Füße werden wiederum stark vom Nieren-Meridian beeinflusst und die Nieren stehen in der Organuhr in Opposition zum Dickdarm. Auch diesen Zusammenhängen werden wir viel Zeit widmen. Klinisch haben sie sich auf jeden Fall sehr bewährt, auch wenn es die Leute oft verblüfft, wenn wir Schulterprobleme am andere Ende des Körpers behandeln.
In diesem Kurs, wird da viel geübt oder ist das eher Theorie?
Theorie ist wichtig für das Basisverständnis, macht aber noch lange keine gute Behandlung. Von daher werden wir sehr viel Praxis machen und an uns selber üben.
Es gibt med. Massagen, Tuina, Ayurveda-Massagen – was ist aus deiner Sicht das Besondere an Shiatsu?
Für mich ist das Alleinstellungsmerkmal von Shiatsu der durchdringende Druck. Es ist ein ganz spezieller Druck, der in die Tiefe des Systems gerichtet ist.
Wie äussert sich das?
Wir können in der Therapie den Fokus auf die Wasseroberfläche, auf die alltäglichen Wellen legen. Oder uns dorthin ausrichten, wo die großen Unterwasserströmungen zu finden sind. Gelingt es uns, diese Strömungen zu beeinflussen, dann ändert sich das gesamte Klima des Systems. Die meisten Wellen an der Oberfläche kommen schnell wieder.
Wie meinst du das?
Dazu müssen wir das asiatische Konzept von Energie verstehen. Energie, oder Qi, hat viele Ausdrucksformen und Erscheinungen. Qi kann sich im Körper mehr an der Oberfläche zeigen. Oder in der Tiefe. Es ist eine bewusste Entscheidung in der Therapie, welche Ebene ich mit meinem Druck adressieren will. Arbeite ich mit der oberflächlichen Energie, dann ist das so, als würde ich auf einem aufgewühlten Meer die Wellen glätten. Auch das ist gut, denn der Alltag wühlt uns nun einmal oft auf. Diese Form der Wellen kann aber bereits am nächsten Tag wieder vorhanden sein. Um wirklich tiefgehende Änderung zu erwirken, müssen wir das Qi am Boden des Ozeans berühren. Das sind die Unterwasserströmungen. Ändert sich zum Beispiel der Golfstrom, dann ändert sich das Klima in ganz Europa. Hier sprechen wir von fundamentalen Änderungen, die bleiben.
Wie bist du zum Shiatsu gekommen? Du hattest gesagt, dass deine Liebe zu Shiatsu 1993 begann. Was ist da konkret passiert? Ein Zufall? Eine FreundIn, die sagte, probier das mal?
Das kann ich nicht genau erklären. Ich habe das Wort gehört und gewusst, das muss ich machen. Quasi Kernfunktion aktiviert. Ich habe damals auf einem Bauernhof in den schönsten Bergen gewohnt und bin in kürzester Zeit nach Wien gegangen und habe mich für die Ausbildung angemeldet. Noch bevor ich eine Wohnung oder eine Arbeit hatte. Aber das Vertrauen war stark, dass der Weg von Shiatsu einfach stimmig ist.
Danke, Mike, für deine Antworten.
Gern, Martin.
Mike Mandl ist Shiatsu-Lehrer und Schulleiter der International Academy for Hara Shiatsu in Wien, Senior Qualified Teacher Status in Österreich, Referent an internationalen Shiatsu-Kongressen und einer der profiliertesten Vertreter von Shiatsu in Europa. In der Schweiz unterrichtet er Shiatsu-Weiterbildungen an der Heilpraktikerschule Luzern.