«Meine Assoziationen und Gefühle wirken mit beim Nadeln»
Ebikon, 20. Januar 2022 – Ruthild Schulze unterrichtet Weiterbildungen zur TCM-Pädiatrie. Jetzt hat sie einen neuen Kurs entwickelt – mit einem geradezu poetischen Namen. Hier also Ruthild Schulze zu Akupunktur und Poesie.
Ruthild, du hast einen neuen Kurs konzipiert, er heisst «14 Punkte in vorhimmlischer Wandlung». Das hört sich ja geradezu poetisch an. Gibt es da eigentlich Zusammenhänge: Akupunktur und Poesie bzw. Schönheit bzw. Metaphern?
Auf jeden Fall! Wenn ich daran denke, dass die chinesischen Punktenamen in Gedichtform gelernt wurden… Poesie und Shen, also Geist, passen auch zusammen. Das, was in mir «klingt» oder «nachklingt», wenn ich einen Punkte-Namen höre, selbst, wenn ich ihn nicht exakt übersetzen kann, dieser «Klang» und meine Assoziationen und Gefühle wirken mit beim Nadeln.
Dann ist Akupunktur gar nicht so, wie soll ich sagen: mechanisch, wie ich mir das immer gedacht hatte?
Ja, Akupunktur hat eine seelische Komponente, und diese seelische Komponente kann ich nutzen, um erfolgreich zu akupunktieren. Vorausgesetzt, ich habe nicht nur Syndrome oder Symptome im Kopf… erst recht nicht die unbedingte Absicht, dass Symptome doch bitte ganz schnell verschwinden sollen. Das, was du mechanisch nennst, gibt es natürlich in dem Sinne einer Anatomie der chinesischen Medizin. Das ist das Leitbahnsystem. Mit der Kenntnis des Leitbahnsystems kann ich von außen, mit Akupunktur zum Beispiel, aber auch mit Akupressur und Moxen und Gua Sha das Innere und sogar die Organe erreichen.
Nochmal zum Symptom. Du sagst, die unbedingte Absicht, dass es verschwinden soll, kann auch hinderlich sein. Magst du das etwas erläutern?
Das hat mit Sinn zu tun: Mich zu öffnen für die Weisheit des Körpers, der mich konfrontiert mit unangenehmen Befindlichkeiten, Schmerzen oder Beschwerden, öffnet einen Sinn-Raum, der größer ist als ich. Ich vertraue, dass auch das, was als unangenehm empfunden wird, Ent-Wicklungs-Potenzial enthält.
Was bedeutet das konkret für deine Akupunktur?
Es können sich Akupunkturpunkte quasi selber anbieten. Die Patient*in formuliert etwas, was mich an einen Punktenamen erinnert – wenn ich Glück habe, natürlich auch, wenn ich fleißig gelernt habe – erkenne ich diese Verknüpfung. Wenn die Patient*in sich nach Frieden und Vertrauen sehnt oder mehr Licht in ihrer seelischen Stimmung braucht. Dann verknüpfe ich diese Formulierungen mit bestimmten Akupunkturpunkten. Beispiele aus dieser «14 Punkte»-Weiterbildung sind das «Gästehaus» Niere 9 und «Enkel des Fürsten» Milz 4 oder der «Innere Hof» Magen 44. Insofern kann ich mir diese Punktenamen auch als Lernprojekt vornehmen….damit mein Repertoire erweitert wird.
Was bedeutet eigentlich diese «Vorhimmlische Wandlung»?
Na, an sich ist das ja auch schon so ein schönes Bild: «Vorhimmlische Wandlung». Zunächst ist die Schwangerschaft entstanden – und die Phasen der Schwangerschaft sind vorbestimmt als Wandlung vom Holz über Feuer, Erde, Metall zum Wasser. Nichts bleibt stehen, Bewegung, Entwicklung, Wandlung, und Wandlung ist gleich Leben. Erst, wenn die Geburt beginnt, startet die Reise des Kindes vom Vorhimmel in den Nachhimmel. Laut dem Shou Shi Pien ist die eigentliche Geburt des Kindes erst nah, wenn der «Glanz einer goldenen Blume» im Auge der Kreissenden erscheint – da sind wir wieder in der Poesie und im Shen. Bei der Geburt durchlaufen dann Mutter und Kindwiederum die Phasen vom Holz usw. bis zum Wasser…und dann startet die Kindheit – diese bleibt nicht ewig! So entfaltet sich das Leben. Mir klingt deine Frage nach Akupunktur und Poesie noch nach.
Inwiefern?
Diese Frage bringt mich darauf, das Stechen, die Nadeltechnik und den Umstand, dass wir einen Punkt so und nicht anders behandeln, mit der Prosa zu assoziieren. Die seelische Resonanz aber, das also, was ich an Schwingung mit meiner Patient*in erlebe, was mich nach der Diagnose zur Punktauswahl bringt – das ist die Poesie des Moments. Wenn die Nadel dann das De Qi auslösen konnte – dazu braucht es Technik: Prosa – beginnt wieder Poesie: der Himmel kann via Nadel zum Menschen gelangen und in ihm himmlisch wirken. Danke dir für diese Poesie-Frage.
Gern. In diesem Kurs geht es um Anfangspunkte und um Xi-Punkte. Was sind das für Punkte?
Na, es geht nicht nur um Anfangspunkte und Xi-Punkte, sondern auch um Feuer-, Erde- und Wasserpunkte, Hui- und Luo- und Himmelssterne-Punkte. Wir werden die He-Meer-Punkte genauso definieren wie auch die Tonisierungs- und Ben-Punkte. Das ist sicher der Prosa-Teil dieses Wochenendes: die Grundlage des Punkteverständnisses.
Du stellst im Kurs auch die Fragen, warum ein Punkt kann, was er kann und welche Wirkungen welche Punktekategorien haben. Einerseits sehr spannende Fragen, andererseits: Inwiefern hilft mir das als TherapeutIn? Ich muss ja eigentlich nur wissen, was ein Punkt bewirkt. Das Warum ist ja eher nebensächlich. Was übersehe ich?
Wenn ich mich mit den Punktekategorien auskenne, mich darauf beziehe, ist meine ganze Vorstellungskraft beim Nadeln klarer. Diese Klarheit teilt sich mit. Ein Beispiel: Die berühmten «4 Tore» – die Kombination von Di 4 und Le 3 – wenn ich nur lerne, dass die beiden Stauungen lösen, ist mein Fokus eingeschränkt. Wenn ich weiß, dass beides Yuan-Punkte sind, der obere Punkt, Di 4 über das Metall mit dem Qi, der untere Punkt, Le 3 mit dem Holz und Xue verbunden… und wenn ich dabei noch im Bewusstsein habe, dass das Vertreter einer Yang- und einer Yin-Leitbahn sind, wird mir als Behandlerin die ganze Kraft sehr bewusst: Ich erreiche das Jing, das Qi und das Xue.
Kann ich den Kurs einfach so besuchen? Oder besser als Ergänzung zum Vorhimmelskurs?
Beides ist möglich. Ich werde im Vorhimmelskurs mehr den Fokus auf den Grundlagen der Embryologie haben, Trimester, Wandelphasen, Yin Yang, Leitbahnversorgung und Anamnese der Eltern in Bezug zu der Schwangerschaft. Im «14 Punkte»-Kurs wird der Bezug zur Schwangerschaft knapp vorgestellt. Da geht’s um das umfassende Verständnis der betreffenden Punkte. So berühren sich beide Kurse, werden einzeln belegbar sein – sind aber eine ideale Ergänzung.
Danke, Ruthild, für das Gespräch.
Bitte, Martin.
Ruthild Schulze arbeitet seit 1990 als Heilpraktikerin und Dozentin für Chinesische Medizin. Ruthild ist spezialisiert auf Behandlungen bei Kinderwunsch, Begleitung während der Schwangerschaft sowie auf die Behandlung von Babys, Kindern und Jugendlichen. Sie unterrichtet seit 1994 Hebammen und GeburtshelferInnen in der Anwendung von Akupunktur für die Geburtshilfe. Ihre «Schwangerschaftsscheibe» bietet als «Wanderung durch den Vorhimmel» eine Orientierung während der 38 Wochen Schwangerschaft. An der Heilpraktikerschule Luzern unterrichtet Ruthild regelmässig Fortbildungen für TCM-TherapeutInnen in TCM-Pädiatrie. 2015 hat sie das Kinderbuch «Line und Paul und Akupunktur» publiziert, 2020 erschien das Buch «Ich bin ein Kinderwunsch-Wunschkind». Ihre Praxis führt Ruthild in Berlin: www.ruthildschulze.de