«Ich habe mich das ganze Jahr auf die Blutegel gefreut»
Ebikon, 4. Februar 2021 – Blutegeltherapie. Schnuppern im Kurs von Alex Inderkum, Dozent für Traditionelle Europäische Naturheilkunde TEN.
Die im Speichelsekret der Blutegel enthaltenen Stoffe wirken blutverdünnend, schmerzlindernd und entzündungshemmend – die Tiere setzt man zum Beispiel bei Menstruationsbeschwerden, Arthrose oder venöser Insuffizienz ein. Im Bild ein hungriger Blutegel, kurz vor der therapeutischen Anwendung. Foto: Heilpraktikerschule Luzern
Blutegel – sie sehen aus wie kurze Regenwürmer. Sie piksen und saugen Blut, ziemlich viel Blut, bis sie kugelrund sind und von selbst wieder loslassen. «Blutegeln» ist eine alternative Therapiemethode. Sie wird zum Beispiel zur Wundheilung, bei Gicht, Rheuma und Schmerzen angewandt.
Fakt I: Blutegel sind ein bisschen wie nette Zecken – einmal vollgesaugt, können sie davon ein bis zwei Jahre lang leben. Nur sind sie eben «nett» und tun uns gut.
Fakt II: Nach der Behandlung friert man Blutegel ein, sie sterben.
Fakt III: Während dem Saugen schläft ein Egel auch mal ein. Dann einfach streicheln, und sofort saugt er respektive sie wieder weiter.
Der Start
Unser TEN-Dozent Alex Inderkum trat vor einigen Wochen, vor Homeoffice-Zeiten, an meinen Bürotisch: «Willst du mal sehen?» Er streckte mir einen Becher mit Blutegeln entgegen. Dann öffnete er den Deckel, streichelte sie, nahm sie heraus. Die Tiere waren unheimlich aktiv. Und ganz ehrlich, mich ekelte das ziemlich.
Nicht anders erging es meinen Teamkolleginnen. Sie waren skeptisch interessiert: «Das ist ja schon irgendwie spannend», sagte Andrea vom Büroteam. Und Alex, der bereits an seinen Blutegel-Kurs dachte, meinte: «Falls jemand im Kurs schnuppern möchte, nur zu.»
So ganz in Ruhe liessen mich diese Egel dann doch nicht. Und spontan beschloss ich, mich auf das «Abenteuer Blutegel» einzulassen. Gespannt, ob die Begeisterung mich packen würde.
Nächste Station: Blutegel-Kurs
Definitiv gepackt hat es Alex Inderkum – für ihn sind Blutegel das Grösste. Nach der Ausbildung zum Naturheilpraktiker TEN an der Heilpraktikerschule Luzern absolvierte er ein Nachdiplom für Blutegeltherapie.
Ein Blutegel ist so ähnlich wie ein Regenwurm, etwas kürzer, und mit circa 90 Zähnen. Foto: Heilpraktikerschule Luzern
Je nach Beschwerden setzt man diese Blutegel an bestimmten Körperstellen an; einer oder mehrere gleichzeitig. Ein Egel spritzt durch seinen Speichel ein Sekret in den Körper der PatientIn. Dieses Sekret ist die Ursache für die besondere Wirkung dieser Therapie. Es enthält bis zu 100 verschiedene bioaktive Substanzen, auch BAS genannt, die eine heilsame Wirkung haben. Sie können bei diversen Beschwerden unterstützen, indem sie blutverdünnend, schmerzstillend, entzündungshemmend und wundheilungsfördernd wirken. Und das Speichelsekret kann den Lymphfluss verbessern. Soviel zur Theorie.
Im Kurs von Alex Inderkum gibt es denn auch zuerst einen kurzen Theorie-Teil. Ich höre mich um, was die StudentInnen vom Kurs erwarten:
«Ich habe mich das ganze Jahr auf diesen Kurs gefreut» – «Eklig, ich setze mir keinen Egel an!» – «Endlich! Ich möchte später auch mit Blutegeln arbeiten» – «Ich bin Vegi, niemals würde ich mit solchen Tieren arbeiten» – «Mir geht es um die Selbsterfahrung» – «Im Spital haben wir Egel nach Amputationen angesetzt» – «Wirkt das wirklich? Ich bin mega gespannt» – «Schon länger arbeite ich als Therapeut, da gibt es auch negative Erfahrungen mit Blutegeln: Infekte, Kontraindikationen. Was ist da dran?» – «Meine Freundin wendet Egel bei Pferden an: Wahnsinn, diese Wirkung» – «Schon eklig, aber ich mache das auf jeden Fall».
So unterschiedlich die Erwartungen und Erfahrungen, so gross die Spannung im Raum.
Und los geht's
Alex nimmt den kleinen Becher mit den Blutegeln hervor. Sie sind immer noch ganz aktiv, na klar, sie sind auch hungrig. Die Tiere wurden in einem Labor im Kanton St. Gallen gezüchtet, in einem geschlossenen Ökosystem. Sie dienen einzig für medizinische Zwecke und sind frei von Krankheitserregern. Zuerst spült Alex die Blutegel kurz mit kaltem Wasser ab, dann sind sie bereit für die therapeutische Anwendung.
Auch bereit ist eine Studentin, die sich als Vorzeigeperson gemeldet hat. Sie entscheidet sich, den Egel hinterm Ohr anzusetzen – gegen Kopfweh und Tinnitus-Probleme, wie sie sagt.
Therapeut und Studentin brauchen viel Geduld, bis der Egel «anbeisst». Foto: Heilpraktikerschule Luzern
Der Egel scheint etwas nervös und zappelig zu sein. Der Therapeut und die Studentin müssen umso ruhiger und geduldig bleiben. Eine solche Therapie kann bis zu zwei Stunden dauern. Endlich beisst der Egel an und macht das «Brüggli». Das ist eine Position des Egels, wo Kopf und Hintern an der Studentin anhaften und ihm dadurch Halt geben, während er sich mit Blut vollsaugt.
Wie sich das anfühlt? Es kitzle ein wenig, sei wie ein kleiner Mücken- oder Brennnesselstich, so die Studentin.
Und dann saugt sich der Egel voll, bis er richtig prall ist. Fast sieht das aus wie ein neuer Ohrring.
Dieser Blutegel macht die «Brüggli-Position». So saugt er zwischen 10 und 20 Milliliter menschliches Blut. Foto: Heilpraktikerschule Luzern
Sehr gute Erfahrungen mit der Blutegeltherapie mache Alex Inderkum in seiner Praxis bei Personen mit chronisch venöser Insuffizienz, also Krampfadern. Und auch bei beginnender Arthrose setzt er Blutegel ein.
In einem geschlossenen Ökosystem werden die medizinischen Blutegel gezüchtet; mithilfe eines Schröpfglases kann der Egel punktgenau gesetzt werden. Foto: Heilpraktikerschule Luzern
Nun sind auch die anderen StudentInnen dran. Sie setzen die Egel an: an Oberschenkel, Knie, Ellenbogen, Schienbein und am Rücken. Auch sie brauchen viel Geduld, bis die Egel anbeissen.
Gut zu wissen
Übrigens, die Egel mögen Seife, Bodylotion oder Parfüm überhaupt nicht. Deshalb sollte die PatientIn zwei Tage vor der Therapie keine starken Düfte verwenden. Sonst beisst kein Egel an.
Wenn der Egel vollgesaugt ist und loslässt, kommt es oft zu Schwellungen, Rötungen und Juckreiz. Das Nachbluten ist wichtig, ja sogar erwünscht, denn das ist gut für die Wundreinigung und hat einen entstauenden Effekt. Wichtig ist auch, viel zu trinken und anschliessend mehrmals einen sauberen Verband anzulegen. Kratzen sollte man, wenn möglich, nicht.
Und niemals darf man einen Blutegel abreissen. Es kann sein, dass das Tier dann erbricht und der Mageninhalt eine Infektion verursacht. Also einfach etwas Geduld haben, bis der Egel von selbst wieder loslässt.
Leichte Rötungen, Schwellungen und Juckreiz sind normale Reaktionen. Foto: Heilpraktikerschule Luzern
Ein Blutegel darf nur einmal verwendet werden. Man darf einen Egel nicht zuerst bei der einen und dann bei der anderen Person ansetzen. Theoretisch verschleppen sie zwar keine Krankheiten, dennoch sollte der gleiche Egel nicht bei unterschiedlichen Menschen angesetzt werden. Daher müssen die Egel nach der Behandlung durch Einfrieren getötet werden.
Es ist gesetzlich verboten, die Tiere in der Natur auszusetzen. Dies, da die mitteleuropäischen Blutegel vom Aussterben bedroht und eine geschützte Tierart sind. Und die Zucht- und Kulturegel aus dem Labor, welche wir verwenden, gehören einer anderen Rasse an. Man will natürlich auch das Verbreiten von Krankheiten vermeiden.
In Zuchtstationen werden Egel theoretisch bis zu 25 Jahre alt. Für medizinische Zwecke nutzt man Egel, wenn sie knapp ein Jahr alt sind. Sie sind zweigeschlechtlich, jedoch nicht zur gleichen Zeit. Zuerst sind sie männlich und können ältere Weibchen befruchten, danach entwickeln sich zu Weibchen und werden von jüngeren, noch männlichen Blutegeln befruchtet.
Und nach dem anfänglichen Ekel über diese Tiere bin ich spätestens jetzt fasziniert – danke Alex.
Autorin: Veronika Estermann, Kommunikation Heilpraktikerschule Luzern
Alex Inderkum unterrichtet bei uns diverse Module der Traditionellen Europäischen Naturheilkunde TEN wie zum Beispiel Fussreflexzonen und klinische Therapeutik.
Er hat eine eigene Praxis in Schattdorf: www.lifecenter.ch
Und Baunscheidtieren & Blutegel ist übrigens ein Kurs für EinsteigerInnen. Wer also möchte, gern.