«Bewegung ist die eleganteste Form, den Blutzuckerspiegel im Wohlfühlbereich zu halten»
Ebikon/ Bonn (DE), 26. Januar 2018 – Zucker zu reduzieren, kann sich lohnen. Dies nicht nur bei Übergewicht, auch beispielsweise bei einem unerfüllten Kinderwunsch. Wir fragen Ruth Rieckmann, Diplom-Oecotrophologin und TCM-Ernährungsberaterin und Begründerin der Integrativen TCM-Ernährung.
Als sich die Chinesische Medizin entwickelte, gab es weder Süssigkeiten noch langes Sitzen. Ruth Rieckmanns Tipp für Gesunde: Nur einmal pro Tag ein süsses Extra – und aufstehen, Stühle weg, dreissig Minuten Bewegung.
So, die Festtage sind durch. Hast du viel genascht? Mit gutem oder schlechtem Gewissen?
Ich liebe Spekulatius, Engadiner Nusstorte und selbstgebackenen Lebkuchen. An Weihnachten esse ich mehr Süsses als sonst. Deswegen habe ich kein schlechtes Gewissen. Ich habe dann auch Zeit, täglich in der Natur spazieren zu gehen. Aber ich merke, dass Süsses Lust auf mehr Süsses macht.
Wie das?
Der Zusatz von weissem Zucker ist nur ein Aspekt des Zuckerproblems. Aber dieser versteckte Zuckerzusatz in Lebensmitteln, der vielen Menschen nicht bewusst ist, kann auf Dauer krank machen: Die Biologie unseres Körpers, die noch aus der Steinzeit stammt, ist nicht darauf vorbereitet, dass mehrmals täglich schnell verfügbare Glukose in unsere Blutbahn gelangt und dass wir uns kaum noch körperlich bewegen.
Ja, wir sitzen im Büro, also ich zumindest, laufe höchstens zur Kaffeemaschine und nehme dann zu allem Überfluss noch Zucker in den Kaffee.
Ja, aber der sichtbare weisse Zucker, den wir selbst in den Kaffee rühren, ist der kleinere Teil des Problems. Es gibt auch Limos, Fruchtgetränke, Smoothies, Wein, Bier, Liköre, alles voller Zucker. Und häufig wird Zucker ja Fertigprodukten zugesetzt, also dem Müsli, den Müsliriegeln, Brot, Würstchen, Salatsossen, Tomatensosse und Ketchup. Da hat Zucker oft sogar gesund klingende Namen, aber schlussendlich ist auch «natürliche Fruchtsüsse» einfach das, was es ist.
Zucker.
Ja. Und das kann schnell jeweils ein Esslöffel im Becher Fruchtjoghurt, ein Esslöffel im Ketchup oder in der Tomatensosse, ein weiterer Löffel im Kuchen und noch einer in einer Limonade sein. Das summiert sich im Laufe des Tages und kann ein Blutzuckerproblem werden. Die Zuckerarten wie weisser Haushaltszucker, Milchzucker oder Fruktose-Glukose-Sirup werden im Magen-Darm-Trakt in Zuckermoleküle zerlegt. Dabei wird Traubenzucker, also Glukose frei, und das hat starke Auswirkungen auf den Blutzuckerspiegel.
Und der Blutzuckerspiegel hat dann mit dieser Lust auf Süsses zu tun?
Ja. Wenn der Blutzucker innerhalb einer halben Stunde stark ansteigt und dann rapide in die Unterzuckerung abfällt, nenne ich das in der Beratung «die Blutzucker-Falle». Das ist ein Teufelskreis. Süsses macht kurze Zeit danach Lust auf mehr Süsses. Ich sehe diese Muster täglich in den Ernährungs- und Symptomtagebüchern meiner PatientInnen. Oft beginnt dieser Teufelskreislauf schon am Morgen mit dem Frühstück.
Also mit diesen zuckerhaltigen Müsli.
Das kann auch ein Toast mit Honig oder Marmelade oder ein Smoothie mit einer reifen Banane sein, nicht nur ein Müsli mit Zuckerzusatz. Viele Kinder, Schwangere und ältere Menschen werden davon und der Lust auf Süsses, die davon ausgelöst wird, auf Dauer nicht nur dick, sondern bekommen Diabetes Mellitus Typ 2. Die Lösung ist, den Zuckerkonsum zu reduzieren und sich täglich mehr bewegen.
Dein konkreter Tipp?
Nur ein einziges süsses Extra am Tag, wie eine Limonade oder ein Stück Kuchen, und dreissig Minuten Bewegung täglich sind eine Faustformel für Gesunde.
Was hat Zucker mit Bewegung zu tun?
Die Kohlenhydrate aus der Ernährung werden zu Zuckermolekülen abgebaut: je nach Ursprung in Glukose, Fruktose, Galaktose. Das wichtigste Molekül für den Körper ist die Glukose. Sie zirkuliert mit dem Blut, um den Zellen Energie für ihre Funktionen zu liefern. Eine wichtige Funktion ist die Muskelkontraktion. Bewege ich meine Muskeln, fordern die Muskeln sofort Glukose aus der Blutbahn an und der Blutzuckerspiegel sinkt.
Am Schreibtisch gibt es aber nicht so viele Muskelkontraktionen.
Genau deshalb braucht es Bewegung. Bewegung ist die eleganteste Form, den Blutzuckerspiegel im Wohlfühlbereich zu halten. Dann fühlt man sich nicht unterzuckert mit Schwindel oder Heisshunger, aber der Blutzuckerspiegel ist auch nicht dauerhaft erhöht, so dass die Organe geschädigt werden. Das beugt auch Insulinresistenz vor.
Insulinresistenz, das habe ich auch schon gehört, was ist das?
Insulin kann man als «Masthormon» bezeichnen. Wenn der Blutzucker hoch ist und nicht durch Muskelaktivität gesenkt wird, schüttet die Bauchspeicheldrüse das Hormon Insulin aus. Es wirkt auf die Körperzellen wie ein Schlüssel: Es schleust Glukose in die Zellen ein, wo es als Fett eingelagert wird. Wenn der Körperfettspeicher eines Menschen immer grösser wird und er selten Energie durch Muskelarbeit verbraucht, dann streiken die Zellen irgendwann: «Hilfe, bitte nicht noch mehr Glukose, meine Fettspeicher sind voll!» Diese Zellen reagieren kaum noch auf Insulin. Die Bauchspeicheldrüse schüttet deswegen noch mehr davon aus, um die Glukose aus dem Blut in die Zellen zu bewegen, aber die Zellen streiken. Das nennt man «Insulinresistenz». Die Blutglukosewerte bleiben hoch. Der Mensch erhält die Diagnose «Diabetes Mellitus Typ 2». Der Speckgürtel in Kombination mit Bewegungsmangel kann sehr wohl ein Gesundheitsproblem werden, schon bei Kindern und für Ungeborene im Mutterleib.
Sehen die beiden Medizinsysteme Chinesische Medizin und die Ernährungswissenschaft die Problematik um Zucker ähnlich?
Die Konzepte hinter den Schlagworten «Blutzucker-Falle» und «Insulinresistenz» sind westliche, also ernährungswissenschaftliche Konzepte. Als die Chinesische Medizin entstanden ist, gab es keine Süssigkeiten, wie wir sie kennen. Es gab Honig, Zuckerrohrsaft und Trockenfrüchte, und das waren alles Kostbarkeiten oder Bestandteile von Hausmitteln und Heilkräuterrezepturen. Sie haben im Alltag keine nennenswerte Rolle als Energielieferant gespielt. Chemisch hergestellte oder aus natürlichen Ausgangsstoffen industriell isolierte Süssstoffe gab es noch nicht. Dass Menschen den ganzen Tag sitzend am Schreibtisch, im Auto und vor dem Fernseher verbringen, war vor tausend Jahren unvorstellbar.
Was sagt denn die Chinesische Medizin zur Zucker-Problematik?
Da hat die Chinesische Medizin einen blinden Fleck. Der klassische Reis-Congee zum Beispiel, Shi Fan, ein drei bis vier Stunden lang mit Wasser gekochter Reisbrei, bewirkt einen ähnlich schnellen Blutzuckeranstieg wie eine Limonade, die Zucker enthält. Auch die Stärke aus Reis und anderen Getreiden besteht aus Glukose. Durch langes Kochen wird die Stärke in kleinere Moleküle zerlegt, die dann schnell verdaut und als Glukose resorbiert werden. Reis-Congee ist nährstoffarm und bewirkt einen steilen Blutzuckeranstieg und anschliessenden -abfall mit Unterzuckerung und Heisshunger. Deshalb arbeite ich zur Erklärung der Ursachen und Lösungsmöglichkeiten bei Heisshunger, Gewichtsproblemen, Insulinresistenz und Diabetes überwiegend mit unseren westlichen ernährungswissenschaftlichen Konzepten. Das verstehen die PatientInnen und es wirkt.
Wie beurteilt die Chinesische Medizin Zucker?
In der Chinesischen Medizin zählt Zucker zu den sehr nährenden Lebensmitteln, wie auch Öle, Nüsse, Käse und Fleisch. Meist ist es die Summe dieser Lebensmittel, die ein Übermass an Feuchtigkeit bewirken. Weisser Zucker und weisses Weizenmehl sind sehr süss und können im Übermass auch zu Hitze oder feuchter Hitze führen. Wenn ich die Ernährungstagebücher meiner PatientInnen sehe, fallen mir viele verarbeitete Lebensmittel auf, die nicht von den chinesischen Klassikern beschrieben werden. Da ist modernes Ernährungswissen gefragt. Darauf können wir in der Ernährungsberatung nicht verzichten, auch TCM-TherapeutInnen und Fünf-Elemente-ErnährungsberaterInnen nicht. Die Zuckerproblematik begegnet uns bei Übergewicht, Heisshunger und Tumorerkrankungen. Zuckeraustauschstoffe wie Fruchtzucker und Birkenzucker können bei Nahrungsmittelintoleranzen, dem Reizdarmsyndrom und der Ernährung unter Chemo- und Strahlentherapie unverträglich sein. Auch in der Kinderwunschtherapie sind die ernährungswissenschaftlichen Grundlagen zu Zucker und Zuckerstoffwechsel gefragt.
Ein unerfüllter Kinderwunsch kann mit Zuckerkonsum zusammenhängen?
Ja, heutzutage ist häufig das polyzystische Ovarsyndrom Ursache für unerfüllten Kinderwunsch. Ein grosser Teil dieser Patientinnen leidet unter Insulinresistenz – auch ohne übergewichtig zu sein. Diese Insulinresistenz muss labortechnisch ausgeschlossen oder, wenn labortechnisch nachgewiesen, therapiert werden. MedizinerInnen in Deutschland setzen oft Methformin-Tabletten in der Kinderwunschtherapie ein, wenn Insulinresistenz vorliegt. Der Königsweg ist aber die Beratung zu Ernährung und Lebensstil. In vielen Fällen lassen sich so gute Blutzuckerwerte erzielen und die Schwangere soll ja auch ohne Schwangerschaftsdiabetes durch die Schwangerschaft kommen. Sind zu viel Zucker und den Blutzucker schnell steigernde Kohlenhydrate in Kombination mit Bewegungsmangel wichtige Mitursachen für Insulinresistenz, sollte man auch dort zuerst ansetzen. So kann die Medikamentengabe reduziert oder zumindest aufgeschoben werden.
Bietet die Chinesische Medizin denn irgendetwas Nützliches für das Zucker-Problem?
Ja, die chinesische Diätetik kennt zwar das Zucker-Problem nicht in diesem Ausmass, hat aber Behandlungskonzepte für Begleiterscheinungen, also Feuchtigkeit, feuchte Hitze, Schleim und Schleimfeuer, und sie kann dabei gut helfen. Bei starken Beschwerden reicht die Reduktion von Zucker nicht aus, um die Symptome schnell zu lindern. Dann setze ich klassische chinesische Kraftbrühen, Kraftsuppen und Essenzen flankierend ein. Das wirkt gut. Deshalb habe ich soeben auch ein Buch dazu publiziert. Es ist sowohl für AnfängerInnen wie auch für TCM-TherapeutInnen, die keine ErnährungsspezialistInnen sind, hilfreich. Zusätzlich, bei sehr starken Beschwerden, empfehle ich auch Akupunktur und Heilkräutertherapie bei TCM-TherapeutInnen.
Ist Birkenzucker eine Lösung? Der scheint sehr interessant zu sein, schliesslich hat er nur vierzig Prozent der Kalorien, die normaler Zucker hat, und, besonders spannend: Er ist sogar gut für die Zähne. Was hältst du von Birkenzucker?
Birkenzucker, auch Xylit genannt, kann für Menschen mit Blutzuckerproblemen beim Backen eine Alternative zu Haushaltszucker sein. Der Zuckeraustauschstoff hat eine ähnlich starke Süsskraft wie Haushaltszucker und verträgt Backtemperaturen bis 200 °C. Er löst eine schwächere Insulinausschüttung als dieser hervor. Der Zuckeralkohol wird in einem aufwändigen industriellen Verfahren aus Hölzern und pflanzlichen Rückständen aus der Landwirtschaft gewonnen. Er zählt zu den stark verarbeiteten, isolierten Produkten wie auch die Steviaglykoside aus der Steviapflanze – auch wenn der Name so natürlich klingt.
Was ist denn mit Vollrohrzucker oder natürlichem Zuckerersatz? Gehandelt werden da ja Agavendicksaft, Reissirup, Honig, Kokosblütenzucker, Ahornsirup, Stevia. Was hast du dazu zu sagen?
Kleine Mengen Zucker, egal in welcher Form, sind als Genussmittel für Gesunde, die sich täglich körperlich bewegen, kein Problem. Am besten kombiniert man eine kleine Süssigkeit oder ein gesüsstes Getränk mit einer Mahlzeit. Dann mischt sich die darin enthaltene Glukose mit den Fetten und Eiweissen im Magen. Die Magenpassage dauert dadurch deutlich länger und der Blutzuckeranstieg erfolgt langsam. So kann man die Süsse geniessen, ohne gleich danach Heisshunger auf mehr zu bekommen. Aus ökologischen Gründen würde ich eher einheimische Süssungsmittel wählen. Aber warum nicht auch mal etwas Exotik, wenn es schmeckt? Alle Süssungsmittel sollten wie Gewürze in kleinen Mengen benutzt werden. Die Werbeaussagen der Hersteller, wie hoch der Mineralstoffgehalt dieser Süssungsmittel pro 100 Gramm im Vergleich zu Haushaltszucker ist, sind irrelevant: Wenn ich nur einen Teelöffel, also fünf Gramm Süssungsmittel in ein Müsli oder einen Getreidebrei aus Flocken und Nüssen zugebe oder im Tee trinke, dann tragen die darin erhaltenen Mineralstoffe nicht zur Bedarfsdeckung dieser Mineralstoffe bei.
Welche Zucker oder Süssungsmittel benutzt du denn? Und wie machst du es mit PatientInnen?
Der starke Eigengeschmack von Vollrohrzucker, Rübenmelasse oder Kastanienhonig kann helfen, die Zuckermenge zu reduzieren. Ich backe meine Weihnachtsplätzchen mit ungefähr einem oder zwei Drittel der im Rezept angegebenen Zuckermenge und nehme Rohrzucker, weil ich den Geschmack mag. Das ist mir süss genug und schmeckt besser als weisser Zucker. Steviablätter eignen sich für Teemischungen. Wenn Patienten ein Diabetes-Problem haben, können Süssstoffe eine Alternative sein. Aber auch dort empfehle ich, diese nur möglichst selten und in kleinen Mengen einzusetzen.
Welche Nachteile haben künstliche Süssstoffe? Trinken deine Kinder Limonade mit Zucker oder mit Süssstoff?
Eine wissenschaftliche Studie hat festgestellt, dass einige Süssstoffe die Darmflora so verändern, dass Mäuse insulinresistent wurden. Das hat mich geschockt, weil ich meinen Kindern manchmal zuckerfreie Kaugummis oder eine Light-Limonade gegeben hatte. Dass kalorienfreie Süssstoffe über die Darmflora die Körperzellen insulinresistent machen können, war neu für mich. Auf diesem Gebiet ist sicher weitere Forschung nötig. Die Chinesische Medizin rät vom Übermass an süssem Geschmack ab, egal ob er Kalorien liefert oder nicht. Schon ungesüsstes Getreide, Fleisch und Öl gelten als süss. Dann ist jedes gesüsste Lebensmittel, auch mit Zuckeraustauschstoff oder isoliertem Süssstoff sehr süss.
Was bleibt denn als Lösung?
Ich rate, generell zu versuchen, im Einklang mit den körperlichen Bedürfnissen nach Nahrung, Bewegung und Entspannung zu leben. Noch unsere Grosseltern hatten regelmässige selbst zubereitete Mahlzeiten, Leitungswasser als Durstlöscher, täglich körperliche Bewegung und ausreichend Schlaf. Kuchen gab es am Wochenende, Eis im Sommer und Plätzchen nur an den Weihnachtstagen. Wir hingegen muten unserem Steinzeit-Körper vieles zu, was ihn früher oder später überfordert. Mir blutet immer das Herz, wenn Frauen mit Schwangerschaftsdiabetes die Diagnose verdrängen. Bei schlechter Blutzuckereinstellung wird der Stoffwechsel dieser Kinder bereits im Mutterleib auf Übergewicht und Diabetes programmiert. Diese Frauen sind nach der Entbindung zunächst keine Diabetikerin mehr, eine von zweien wird dies aber innerhalb der nächsten acht Jahre.
Wenn ich unbedingt etwas Süsses brauche, was nehme ich?
Wenn der Blutzucker niedrig ist, weil die letzte Mahlzeit zulange zurückliegt, sollte man keine süssen Getränke oder Traubenzucker zu sich nehmen, sondern eine ganz normale Mahlzeit: ein Käsebrot, ein richtiges Müsli oder eine warme Mahlzeit. Sonst tappt man in die Blutzuckerfalle und der nächste Süsshunger nach dreissig Minuten ist vorprogrammiert. Mein persönlicher Favorit als süssende Zutat oder als Snack sind Mandeln, Mandelmus und Mandelmehl. Sie schmecken sehr süss und lösen keine starke Blutzuckererhöhung aus. Ein Teelöffel Mandelmus im Frühstücksbrei oder auf einem Vollkornbrot, ein Drittel des Getreidemehls durch Mandelmehl ersetzt, das alles schmeckt lecker und süss. Mittlerweile gibt es sogar entfettetes Mandelmehl aus biologischem Anbau. Auch als Snack für unterwegs, wenn die Mahlzeiten zu lange auseinander liegen, sind Mandeln eine gute Wahl. In der Schweiz gibt es natürlich leckeren Käse. Wenn ich an der Heilpraktikerschule Luzern unterrichte, geniesse ich das gute Brot und die leckeren Bio-Käse bei Ulrike und Peter.
Hast du noch einen Geheimtipp?
Süsshunger kann auch emotionaler statt körperlicher Hunger sein. Viele Menschen wissen das nicht. Manche essen unbewusst, wenn sie sich eigentlich gestresst fühlen, müde oder traurig sind. Dann berate ich auch zu Alternativen zu Essen, um den emotionalen Hunger zu stillen. Umgekehrt macht ein häufiges und schnelles Auf und Ab des Blutzuckers anfällig für Stimmungsschwankungen. Führt man Menschen aus der Blutzuckerfalle, sind sie überrascht und erleichtert, wie angenehm sich ein stabiler Blutzuckerspiegel anfühlt. Es braucht nur ein bisschen Disziplin. Bei Kindergeburtstagen und Festtagen mit mehr Süssem lässt sich gut beobachten, wie empfindlich Kinder reagieren. Manche essen und trinken viel Süsses und sind in den Tagen danach kaum noch an Wasser als Durstlöscher und an normale Mahlzeiten gegen den Hunger zu gewöhnen. Auch wenn es eine Herausforderung ist, ist es sehr wichtig, Kindern einen Mahlzeitenrhythmus, Wasser als Durstlöscher, einen massvollen Umgang mit Süssem und tägliche Bewegung beizubringen. Regelmässige Mahlzeiten in der Familie mit Gesprächen und tägliche Bewegung helfen auch, Stresshormone zu vermindern.
Stresshormone?
Das sollten nicht nur TherapeutInnen und BeraterInnen wissen: Manche Blutzuckerprobleme entstehen nicht durch zu viel Zucker in der Ernährung, sondern durch zu hohe Stresshormonpegel. Cortisol erhöht den Blutzucker auch. Ich berate nie ohne ausführliche Anamnese, vollständige Laborwerte und ein 7-Tage Ernährungs- und Symptomtagebuch. Ein Chirurg operiert ja auch nicht ohne Skalpell, Nadel und Faden. Eine fundierte Ernährungsberatung braucht eine gute Informationsgrundlage. Dann, und nur dann, reichen wenige Empfehlungen zur Lösung des Problems aus. Und die Lösungen müssen individuell passen und mit den Klienten gemeinsam erarbeitet werden.
Gibt es Tricks, wie ich mir den Verzicht auf Süsses angenehm mache?
Es gibt verschiedenen Strategien. Auf gesüsste Getränke zu verzichten, ist sehr wirksam. Sich einmal pro Tag einen süssen Genuss zu gönnen ohne schlechtes Gewissen – aber auch nur einmal – ist eine hilfreiche Gewohnheit. Ich gönne mir nach der Weihnachtszeit bewusst meine kohlenhydratarmen Lieblingsspeisen, z.B. Pfannkuchen aus Ei, Haferkleie, Mandelmehl und Beeren, überbackene Auberginen mit Parmesankruste oder Linsensuppe nach thailändischer Art. So entwöhne ich meinen Körper von der Überdosis an süssem Geschmack, ohne etwas zu vermissen.
Angenommen, ich höre jetzt einfach auf mit zugesetztem Zucker. Welche positiven Reaktionen meines Körpers, vielleicht auch meines Geistes kann ich erwarten?
Wie gesagt, nur mit zugesetztem Zucker aufzuhören ist ein Anfang, aber je nach Ernährungsstil oder Art des Blutzuckerproblems reicht es nicht aus. Auch Süssstoffe, ständiges Snacking, Säfte und Schorlen als Getränk können problematisch sein. Isst man drei oder vier Mahlzeiten am Tag im Abstand von drei bis fünf Stunden, die jeweils nur eine moderate Blutzuckererhöhung auslösen, empfinden viele eine angenehme Sättigung, nach einigen Stunden ein natürliches Hungergefühl, während der Mahlzeiten ein intensiveres Geschmackserleben der unterschiedlichen Geschmacksrichtungen, weniger Heisshungerattacken auf Süsses und bessere Konzentrationsfähigkeit. Wie gesagt, bei Kindern kann man das gut beobachten.
Neben weniger Heisshunger und besserer Konzentrationsfähigkeit: Gibt es noch andere Beschwerden, die sich bessern?
Falls zu viel Süsses bereits Feuchtigkeitseinlagerungen bewirkt hat, können körperliche Schweregefühle, Wassereinlagerungen oder dumpfe Kopfschmerzen abnehmen. Wenn feuchte Hitze oder Hitze durch Zucker im Sinne der Chinesischen Medizin ein Problem sind, bessern sich oft Unruhe, Durst, Heisshunger, Hautunreinheiten oder Schlafstörungen. Es ist individuell, wie stark Menschen auf zu viel Süsses in Form von Zucker reagieren. Körperliche Bewegung, Stress- oder Schwangerschaftshormone und die Konstitution sind weitere wichtige Einflussfaktoren. Wer ein tieferes Problem bei sich oder seinen Kindern vermutet, sollte zu einer individuellen Ernährungsberatung gehen, in der auch ein 7-Tage Ernährungs- und Symptomprotokoll ausgewertet wird. Eine integrative Sichtweise mit Chinesischer Medizin und Ernährungswissenschaft kann viele Ursachen von Problemen erkennen, die man aus Sicht nur eines der beiden Wissensgebiete übersehen würde. Wer beides beherrscht, kann viele Ernährungsprobleme durch die Umstellung von nur drei bis fünf Gewohnheiten lösen. Dazu braucht es auch professionelle Beratungsmethodik, wie man die Umstellung von Gewohnheiten, z.B. durch Belohnungssysteme, unterstützt.
Danke, Ruth, für das Gespräch. Mein Feierabendbier sehe ich jetzt kritischer.
Ja, Martin, vielleicht ziehst du doch mal besser die Laufschuhe an.
Hier der Link zur Studie zu künstlichen Süssstoffen, Darmflora und Insulinresistenz:
Hier der Artikel dazu im Ärzteblatt:
Richtig einfach, richtig hilfreich
Für ihr Buch «Kraftsuppen und Essenzen: Heilen und Geniessen mit den fünf Elementen» hat Ruth Rieckmann klassische chinesische Hausmittelrezepte auf Herz und Nieren geprüft und z.B. blutzuckerverträglicher gestaltet. Das Buch ist ein praktischer Ratgeber und enthält zahlreiche Hausmittelrezepte, die bei Übergewicht, Heisshunger und vielen anderen Problemen wirken. Alle Lebensmittelgruppen werden aus ernährungswissenschaftlicher und klassisch chinesischer Sicht beschrieben. Erstmals gibt es auch Dosierungen, Indikationen und Kontraindikationen zu allen Zutaten für Kraftsuppen und Essenzen. Das Buch gibt es am besten über die Website von Ruth Rieckmann: www.ruthrieckmann.com
Diplom-Oecotrophologin und TCM-Ernährungsberaterin
Ruth Rieckmann arbeitet mit einer Methodik, die sie «integrative Ernährungstherapie» nennt. Sie ermöglicht es Menschen, auch mit schweren Erkrankungen und hohem Leidensdruck, in zwei bis vier Beratungsterminen durch wenige Umstellungen dauerhaft ihre Ernährung zu verbessern. Zu Kraftsuppen und Essenzen hat sie einen Ernährungsratgeber veröffentlicht. Ruth ist Diplom-Oecotrophologin (Universität Bonn) und TCM-Ernährungsberaterin (Universität Witten-Herdecke). Sie berät in einer Praxis für Chinesische Medizin in Bonn. Sie unterrichtet integrative Diätetik an der Universität Witten-Herdecke und verschiedenen Schulen in Deutschland und in der Schweiz.
» Newsroom-Beiträge mit Ruth Rieckmann
» Nächste Kurse mit Ruth Rieckmann, zum Beispiel Integrative TCM-Ernährung: Tumorerkrankungen ab Samstag, 10. März 2018