«Manchmal braucht es eine Vitamin-B12-Injektion»
Luzern, 4. August 2014 – Sowohl die TCM wie auch die westliche Ernährungswissenschaft könnten noch mehr Erfolg haben. Voraussetzung: Beide erarbeiten sich ein Grundverständnis des jeweils anderen Ansatzes. Warum, das sagt Ruth Rieckmann im Interview.
Wie wichtig die Erkenntnisse der westlichen Ernährungswissenschaft auch für die TCM-Diätetik sind, unterrichtet Ruth Rieckmann an der Heilpraktikerschule Luzern.
Ruth, eigentlich hört man ja überall: «Die Schulmedizin stösst an Grenzen!» Du sagst: «Auch die TCM stösst an Grenzen.» Inwiefern tut sie das?
Nimm jemanden mit einem entzündeten Dünndarm. Diese Person kann sich ausgewogen ernähren, wenn man nur die Kriterien der TCM betrachtet, also die energetischen Eigenschaften der Lebensmittel wie Geschmacksrichtung und Temperaturverhalten. Und trotzdem verliert sie zu viel Gewicht und leidet an Nährstoffmangel. Denn die Entzündung im Darm stört die Nährstoffaufnahme und die Versorgung mit Energie – im Sinne von Kalorien. Das lässt sich mit der energetischen Perspektive allein nicht lösen. Ein anderes Beispiel: Bei chronischer, fortgeschrittener Gastritis verliert der Körper die Fähigkeit, Vitamin B12 aus der Nahrung aufzunehmen. Das führt – auch nach TCM – zu schwerem Blutmangel. Dieser lässt sich ohne Vitamin-B12-Injektionen nicht beheben. Dieses Problem muss man kennen und labortechnisch abklären.
Was könnte die TCM besser machen?
Westliches Ernährungswissen integrieren, ganz klar. Vor allem dann, wenn Nährstoffe oder unverträgliche Inhaltsstoffe von Lebensmitteln eine Rolle spielen. Dazu gehören Stoffwechselstörungen, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, entzündliche Magen-Darm-Erkrankungen oder Diabetes mellitus. Die Voraussetzungen dazu sind gut, weil westliche Medizin in der Schweiz Teil der TCM-Ausbildung ist. Auf diesen Grundlagen kann man aufbauen, praxisorientierte Details hinzufügen und üben, wie man integrativ denkt und berät. Westliches Wissen zu integrieren spricht übrigens nicht gegen die TCM: Die Ernährungswissenschaft hat bewährte Nährstoffempfehlungen, Supplemente und Medikamente, die sich gut mit der TCM-Diätetik kombinieren lassen. Und es gibt mittlerweile einfache Methoden, um die Nährstoffversorgung abzuschätzen. Auch ohne Kalorien zu zählen.
Umgekehrt gibt es sicher auch Fälle, in denen die westliche Ernährungswissenschaft an ihre Grenzen stösst?
Ein klassisches Beispiel ist eine Patientin, die aus westlicher Sicht gut mit Energie und Nährstoffen versorgt ist, aber aus Sicht der TCM durch Lebensmittel mit heissem Temperaturverhalten ihre Hitzewallungen verschlimmert. Kennt man die Zang-Fu-Diagnose und wertet ein Ernährungs- und Beschwerdenprotokoll entsprechend aus, werden die ungünstigen Gewohnheiten deutlich. Dann können die energetischen Wirkungen der Lebensmittel gezielt zur Linderung eingesetzt werden. Mit der kombinierten Sichtweise von Inhaltsstoffen und Energetik der Lebensmittel lassen sich viele Krankheiten gut therapieren. Worauf es bei der TCM-Diätetik ankommt, lässt sich übrigens den PatientInnen durch einfache Modelle schnell erklären.
Welchen Vorteil hat es, wenn eine Therapeutin oder ein Therapeut beide Ansätze integrieren kann?
Davon profitieren alle: Die PatientInnen, die TherapeutInnen und das Gesundheitswesen. Wer beide Wissensgebiete und professionelle Methoden beherrscht, kann in beiden Bereichen Ursachen der Beschwerden erkennen und mit wenigen gezielten Empfehlungen zum Ziel kommen. Die PatientInnen fühlen sich verstanden, der Leidensdruck wird schneller gelindert und das Gesundheitssystem spart Kosten für unnötige Untersuchungen und Medikamente. Beim Reizdarm-Syndrom ist das gut zu beobachten. Da es bislang nur wenige integrativ arbeitende Fachkräfte gibt, ist es gut, wenn SchulmedizinerInnen und TCM-TherapeutInnen ein Grundverständnis des jeweils anderen Ansatzes haben und die PatientInnen bei Bedarf gezielt zuweisen können.
Inwiefern ist es wichtig, PatientInnen nicht nur einen Ernährungsplan zu geben, sondern sie auch zu motivieren? Hast du da bestimmte Motivations- oder Kommunikations-Tricks?
Listen, Pläne oder Rezepte allein reichen nicht. Das wichtigste Instrument in der Ernährungsberatung ist die Beratungsbeziehung. Eine gute Beziehung ist nicht einfach so da. Sie kann – und muss – professionell gesteuert werden. Worauf es dabei ankommt und wie man das macht, lässt sich lernen. Da gibt es noch viel Nachholbedarf, wenn man die Ernährungsberatung mit der Psychologie vergleicht. Sehr gute Erfahrungen mache ich mit dem «klientenzentrierten» statt mit dem «diagnosezentrierten» Ansatz. Wer aus dieser Haltung heraus fragt, aktiv zuhört und berät, bewirkt manchmal Veränderungen, die PatientInnen selbst nicht für möglich gehalten hätten. Und das einfach dadurch, dass man als TherapeutIn die Haltung einnimmt, die in den Klassikern der Chinesischen Medizin als «offenes Herz» bezeichnet wird.
Besten Dank für das Gespräch.
Ruth Rieckmann hat eine Methodik entwickelt, die sie «integrative Ernährungstherapie» nennt. Diese Methodik ermöglicht es Menschen, auch mit schweren Erkrankungen und hohem Leidensdruck, in zwei bis vier Beratungsterminen dauerhaft ihre Ernährung zu verbessern. Ruth ist Diplom-Oecotrophologin (Universität Bonn) und TCM-Ernährungsberaterin (Universität Witten-Herdecke). Sie führt eine eigene Praxis für Ernährungstherapie in Bonn und arbeitet ebenfalls mit Schwerpunktpraxen für TCM zusammen. Sie unterrichtet integrative Diätetik an der Universität Witten-Herdecke und verschiedenen Schulen in Deutschland und in der Schweiz. Ruth Rieckmann ist Gründerin des Qualitätszirkels «Diätetik» der AGTCM (Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur und Traditionelle Chinesische Medizin e.V.).
Weiteres Interview mit Ruth Rieckmann:
Diätetik-Ausbildungen an der HPS Luzern
- Ernährungsberatung nach den 5 Elementen (Kurzausbildung)
- Diätetik West-TCM (Fachausbildung)
- Ernährungscoach (Fachausbildung)
- HeilpraktikerIn Phytotherapie (Fachausbildung)