«Abseits jeglichen Schubladendenkens»
Luzern, 15. Mai 2014 – Eine besondere Art der Akupunktur ermöglicht die Balance-Akupunktur, zu erlernen als «Tanz der Meridiane» und ihr «Reigen» bei Dr. med. Robert Trnoska an der Heilpraktikerschule Luzern. Im Interview sagt Robert Trnoska, was diese Art von Akupunktur bringt und warum sie auch im Shiatsu und im TuiNa nützlich ist.
«Tanz» und «Reigen der Meridiane» verändern den Zugang zur Meridianarbeit: Dr. med. Robert Trnoska unterrichtet Balance-Akupunktur an der Heilpraktikerschule Luzern.
Robert, zuerst einen Tanz, dann einen ganzen Reigen: Akupunktur als fröhliche Therapie?
Dr. med. Robert Trnoska: Ja, Akupunktur kann viel Freude bereiten! Es ist sehr schön, sich ganz individuell auf die Beschwerden der Patientin, des Patienten zu dem aktuellen Zeitpunkt einzulassen – ohne auswendig gelernte Kochrezepte! Die Freiheit, selbstbestimmt den richtigen Punkt für die jeweiligen PatientInnen zu finden, lässt einen schon beschwingt werden. Vor allem, wenn man gleich miterlebt, wie Schmerzen sich innerhalb von Sekunden bessern.
Reicht es nicht, die Punkte in richtiger Kombination zu stechen?
Was genau ist «richtig»? Nehmen wir zum Beispiel Kniebeschwerden, da gibt es keine allgemein «richtige Kombination». Der richtige Punkt ist vielmehr jener, der am geeignetsten ist, aktuelle Beschwerden zu lindern. Deshalb erarbeiten und üben wir im Seminar, wie man geschickt Stellen findet, um einen Reiz zu setzen.
Warum sollten AkupunkteurInnen die Meridiane tanzen lassen?
Weil es den Zugang zur Akupunktur völlig wandelt. Als ich vor einigen Jahren diese Technik kennenlernen durfte, hat dies dazu geführt, dass ich meinen Akupunkturstil völlig darauf umgestellt habe. Mit der Folge, dass meine PatientInnen und auch ich selbst zufriedener wurden.
Welche Vorteile haben die PatientInnen?
Durch den flexiblen Zugang der Balance-Methode in der Akupunktur gelingt es, abseits jeglichen Schubladendenkens zu behandeln. Eine PatientIn mit Schulterschmerzen bekommt nicht nur einfach eine Allgemein-Therapie für den Schulterschmerz 08/15, sondern wir holen sie genau dort mit ihren Problemen ab, wo sie sich gerade befindet. Das ist ein enormer Vorteil für die Effektivität der Behandlung!
Geht es bei diesen Tänzen eher um die Melodie, die Rhythmik oder den Takt, vielleicht sogar um den Dreivierteltakt – du kommst ja aus Österreich, dem Land des Walzers?
Es geht darum, sich auf den Moment und die PatientIn, wie sie oder er ist, einzulassen. Die Musik wird mit jeder PatientIn neu geschrieben!
Jetzt ist das alles noch ein wenig abstrakt. Hast du ein konkretes Beispiel? Was genau tut die AkupunkteurIn, wenn sie, statt Punkte zu stechen, Meridiane tanzen lässt?
Ich erkläre im Seminar eine Form der energetischen Anatomie, die sich perfekt für die Akupunktur umsetzen lässt. Dieser Zugang hilft, den Menschen als zusammenhängendes Netzwerk von Leitbahnen zu begreifen. Dieses Begreifen versetzt einen in die Lage, unter beliebigen Bedingungen wirksame Punkte für Beschwerden zu finden. Nehmen wir wieder Knieschmerzen als Beispiel her: Was tun, wenn das Knie unter einem Gips versteckt liegt? Wie gehen wir damit um, wenn durch die bequeme Lagerung der PatientIn während der Behandlung gewisse Punktlokalisationen nicht zugänglich sind? Kein Problem mit der Balance-Akupunktur: indem wir durch das Netzwerk der Leitbahnen tanzen, lassen wir uns durch solche Dinge nicht in Verlegenheit bringen! Wir gewinnen die Freiheit, über entfernt vom Problemort gelegene Stellen rasch wirksame Linderung zu verschaffen.
Bei welchen Indikationen bewährt sich der Tanz bzw. der Reigen der Meridiane?
Im ersten Seminarwochenende¬ – also «Der Tanz der Meridiane» – erlernen die TeilnehmerInnen wohl eine der effektivsten Techniken der Schmerzakupunktur überhaupt. Ich bin immer wieder aufs Neue fasziniert über diese rasch wirkende und flexible Methode. Flexibel übrigens auch in der Art der Reiz-Stimulation: Ob wir etwa eine Akupunktur-Nadel setzen, akupressieren oder Shiatsu- oder TuiNa-Techniken an den Ausgleichsstellen anwenden, bleibt uns selbst überlassen!
Und im zweiten Teil, dem Reigen der Meridiane? Welche Indikationen stehen da im Zentrum?
Da lernen die TeilnehmerInnen, wie sie geschickt Punkte auf Leitbahnen zu einem grösseren Ganzen zusammenfügen, eben zu einem Reigen. Es entsteht also regelrecht ein Konzert von wirksamen Punkten am Körper. Diese Form der Akupunktur nutze ich bei generalisierten oder verstreuten Schmerzsyndromen ebenso wie bei psychischen Problemen, bei gynäkologischen, pulmologischen, gastroenterologischen Anwendungen usw. Eben bei all den vielfältigen Fülle-und-Leere-Zuständen, mit denen uns die PatientInnen in einer allgemeinen Praxis konfrontieren! Der Reigen der Meridiane ermöglicht den Ausgleich auf einer tieferen, dahinterliegenden Ebene.
Was verpasst, wer die Meridiane nicht tanzen lässt?
Ich selbst habe über diese Akupunkturform gelernt, wirklich als Akupunkteur zu denken und zu handeln. Rückblickend sehe ich, wie ich vorher, beeinflusst durch das sonst übliche Akupunktur-Verständnis, eher ein Kräuterdenken auf die Akupunktur zu übertragen versuchte. Das hinderte mich daran, ein tieferes Verständnis zu erlangen. Überdies bin ich sehr dankbar, weil mich diese Akupunkturform sehr viel über den energetischen Aufbau des Menschen gelehrt hat.
Wie meinst du das mit dem Phyto-Denken und dem Akupunktur-Denken?
Die Balance-Akupunktur vermittelt ein Leitbahn-orientiertes Denken – also ein klar auf Akupunktur gemünztes System. Dies steht im Unterschied zu dem herkömmlich vermittelten Zugang zur Akupunktur, also zu Aussagen, dass Punkte zum Beispiel «Nieren-Yang tonisierend» sind oder «Feuchtigkeit ausleitend». Das sind Therapieprinzipien der Kräuterheilkunde, und auch deshalb bezeichne ich diese Form als «Nadeln nach Kochrezepten». Leider vermittelt dieser herkömmliche Zugang kein Bild der Leitbahnen als grösseres Ganzes, eben als das Netzwerk, das wir in der Balance-Akupunktur kennenlernen. Gerade aber in der Schmerztherapie zeigt sich, dass die schnellen und eindrucksvollen Besserungen verlässlicher über den Tanz der Meridiane, also mit der Balance-Akupunktur erreicht werden. Pointiert gesagt: Fürs Kräuterverschreiben muss ich als Kräutertherapeut denken, Stichwort Zang-Fu-Diagnostik. Und fürs Akupunktieren muss ich als Akupunkteur denken, Stichwort 6 Schichten. Nun – genau dies vermittle ich im Kurs!
Du hast vorher Shiatsu- und TuiNa-Techniken erwähnt. Bedeutet das Stichwort 6 Schichten auch Shiatsu- und TuiNa-TherapeutInnen etwas? Inwiefern ist Balance-Akupunktur auch für diese TherapeutInnen interessant?
Das System der 6 Schichten ist ein gemeinsamer Nenner von Shiatsu und Akupunktur – einfach deswegen, weil es eine Grundlage der Leitbahn-orientierten Behandlungstechnik an sich darstellt. Es geht dabei um eine Zuordnung der bekannten 12 Hauptmeridiane in 6 Gruppen bzw. Schichten: So bilden die Magen- und Dickdarm-Leitbahn im YangMing eine Einheit. Ein Verständnis dieser Zusammenhänge eröffnet fantastische Möglichkeiten im Zugang zur Anatomie wie auch in der Verbindung der Leitbahnen untereinander – eben in dem zitierten Netzwerk, in dem wir tanzen wollen.
Nicht nur Balance-Akupunktur, sondern auch das YiJing, also das I Ging begeistert dich. Gibt es da Zusammenhänge?
Es ist mir eine ganz besondere Freude, im Seminar auch die Zusammenhänge und Hintergründe anhand des YiJing darzulegen. Das YiJing, dieses faszinierende Fundament der TCM, ist ja mein Steckenpferd in den chinesischen Lebenswissenschaften. Ich bin sicher, die TeilnehmerInnen werden auch begeistert sein. Die Zusammenhänge mit der Balance-Akupunktur sind erstaunlich.
Zusatzfrage vom 2. Juni 2014: Inwiefern ist Balance-Akupunktur tradiertes TCM-Wissen? Oder ist es komplett neu?
Die Ursprünge der Balance-Akupunktur liegen in den Anfängen der klassischen chinesischen Medizin selbst begründet. Hinweise darauf finden wir bereits im Nei Jing Su Wen. Eine weitere wichtige Quelle stellt das Buch der Wandlungen dar: das Yi Jing. Diese Technik ist also alles andere als neu! Sie wurde über die Jahrtausende gelebt, verfeinert und bewahrt – jedoch nicht als eine Hauptrichtung der Akupunktur, sondern vielmehr als ein Schatz in gewissen Familienlinien weitergegeben. Ein bedeutender Vermittler dieses Stils ist beispielsweise Master Tung, dem wir es zu verdanken haben, einen Teil seines Wissens der breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt zu haben. Wir alle stehen auf den Schultern einer Kette von Lehrern, die ihren eigenen wertvollen Beitrag zur Weiterentwicklung der Behandlungstechnik beigetragen haben. Für mich persönlich wichtige Lehrer der Balance-Technik sind etwa Dr. Richard Tan, dem ich in dieser Hinsicht sehr viel zu verdanken habe, ebenso möchte ich Dr. Wei-Chieh Young, einen der letzten lebenden direkten Schüler von Master Tung nennen. Nicht vergessen möchte ich in diesem Zusammenhang Dr. Chao Chen, Robert Doane, Dr. David Twicken und Prof. Ross – mit einem Wort: Es gibt eine Vielzahl von Vertretern dieser Richtung, die alle aus ihrer Erfahrung heraus zur Balance-Akupunktur beitragen. Und so ist diese Behandlungsmethode auch nicht das Werk eines einzelnen, vielmehr erfreuen wir uns heutzutage des Luxus, dass das Licht dieser Methode über eine Vielzahl an Fackeln weitergetragen wird.
Und welche Fackel trägst du?
Ich sehe meine Rolle in dieser Kette darin, die einfache, ja spielerische Umsetzung der Technik weiterzugeben – daher ja der Name «Tanz der Meridiane»! Weiters ist es mir in meinen Seminaren wichtig, die Ursprünge anhand des Yi Jing aufzuzeigen und über visuell einfache Umsetzungen darzustellen. Eine solche Umsetzung ist auch der sogenannte Meridianfächer, den ich für die tägliche Praxis entworfen habe, um die Anwendung der Methode an den PatientInnen noch leichter werden zu lassen.
Danke, Robert, für das Gespräch.
Dr. med. Robert Trnoska hat Medizin studiert und in Graz promoviert. Parallel dazu hat er sich in TCM ausgebildet, er hat sogar die verschiedenen Formen asiatischer Akupunktur studiert, unter anderem in China und Taiwan. Dabei hat er sich eindringlich mit dem Nei Jing Su Wen und dem Yi Jing auseinandergesetzt. Diese Lektüre – und der Austausch mit Lehrern wie Dr. Wei-Chieh Young, Dr. Richard Tan, Robert Doane und Prof. Ross – haben es ihm ermöglicht, sich tief in die Balance-Akupunktur einzuarbeiten. Mit Blick auf die therapeutische Praxis hat Robert Trnoska seine Erkenntnisse als Weiterbildung für AkupunkteurInnen aufgearbeitet, siehe TCM-Weiterbildung mit Dr. med. Robert Trnoska.
Ein weiterer Schwerpunkt von Robert Trnoska ist die Phyto West-TCM. Dabei fasziniert ihn besonders die Frage: Wie lassen sich die Wirkungen schulmedizinischer Medikamente steigern – und gleichzeitig ihre Nebenwirkungen ausbalancieren? Antworten liefert ihm auch hier die TCM, angewandt auf unsere europäischen Kräuter.
Seine Praxis für Allgemeinmedizin führt er in Tobelbad bei Graz. Er unterrichtet regelmässig Weiterbildungen an der Heilpraktikerschule Luzern.