Es sei «das neue Rauchen»...
...und sogar noch gefährlicher:
Sitzen.
Das zumindest sagt Nilofer Merchant in einem Blog-Beitrag der Harvard Business Review.
Sitzen ist so weit verbreitet und so allgegenwärtig, dass wir nicht einmal in Frage stellen, wie viel wir es tun. Und da es alle anderen auch tun, fällt uns nicht einmal ein, dass es nicht in Ordnung ist. Photo: Uboiz (pixabay.com), Lizenz: CC0
Die Evidenz
Die Beweisführung von Merchant ist ziemlich eindeutig: Nach einer Stunde Sitzen haben die Enzyme, die Fett verbrennen, ihre Aktivität praktisch eingestellt; auch HDL wird reduziert. Diese Inaktivität hängt zusammen mit Herzerkrankungen, Typ-2-Diabetes, Brust- und Darmkrebs. Wegen Tabak stürben in den USA jährlich 3.5 Millionen Menschen. Und wegen Übergewicht, einer direkten Folge des Sitzens? Zehnmal soviel, sagt Merchant, nämlich 35 Millionen. Und in Australien habe man berechnet: Jede zusätzliche Stunde, die man sitzend vor dem TV verbringt, erhöhe das Sterberisiko um 11%.
Nicht nur durch diese Tatsachen, auch durch unsere Intuition scheint klar, dass Stehen und Laufen besser sind als Sitzen und Liegen. Und Nilofer Merchand, besagte Blog-Autorin, hält ihre Sitzungen mittlerweile beim Spazieren ab. Eine Spazierung sozusagen.
Was sagen unsere DozentInnen dazu?
Wenn Stehen besser ist: Wie macht man das richtig? Und wenn man schon sitzen muss: Wie sitzt man richtig?
Fei Liu
Dr. TCM Fei Liu, QiGong-Dozent
«In der TCM ist nicht die Art und Weise unserer Haltung entscheidend. Massgebend für das Entstehen von Erkrankungen ist vielmehr die Dauer der Haltung. Jeder TCM-Therapeut weiss, dass übermässig langes Stehen den Knochen und Nieren schadet, vor allem dem Rücken; und dass übermässig langes Sitzen den Muskeln schadet, übermässig langes Laufen den Sehnen und Bändern.
Im QiGong gilt: Beim Sitzen, Stehen und Laufen soll man senkrecht sein, gleichzeitig entspannt. Zu empfehlen ist Abwechslung: Mal sitzen, mal stehen, mal laufen, mal liegen. Abwechslung ist sogar das Zauberwort. Mal Stehen wie ein Baum, mal die Knie auch wieder durchdrücken, die Energie fliessen lassen.»
Daniela Schenk
Daniela Schenk, Ressortleitung Manuelle Therapien
«Bei Venenleiden gilt ganz klar: Liegen und Gehen kontra Sitzen und Stehen! Im Sitzen passiert es nämlich sehr oft, dass in der Kniekehle wie in der Leiste ein grosser, starker Knick entsteht, und dieser Knick ist schlecht für die Durchblutung. Doch nicht nur im Sitzen, auch im Stehen ist die Muskelpumpe – also die Kontraktionen und Dekontraktionen der Muskeln, die das Blut zurück ins Herz transportiert – wenig bis gar nicht aktiv. Das lässt Stauungen in den Beinen entstehen und kann auch bei schwachem Bindegewebe die Entstehung von Krampfadern begünstigen. Bewegung ist etwas enorm Gutes und Wichtiges.
Richtig stehen: Ich bin nicht Physio- oder Haltungsphysiologin, aber mir scheint wichtig, das Gewicht auf beide Füsse zu verteilen – oft lagern wir uns ja auf unserem besseren Bein (Standbein). Der Mittelpunkt der Ferse hat festen Bodenkontakt.
Richtig sitzen: Die Höhen von Stuhl, Tisch, Tastatur sollten ergonomisch gut eingestellt werden. Nicht mit übereinandergeschlagenen Beinen, den Oberkörper gerade und nicht eingesunken mit Rundrücken. Ganz wichtig: Die Positionen während des Tages immer ein wenig zu wechseln.»
Doris Mutter
Doris Mutter, Shiatsu-Dozentin
«Stell dir vor, wenn du sitzt, dass dein Kopf am Scheitel mit einem Faden nach oben gezogen wird. Du bist locker und entspannt, deine Wirbelsäule ist aufgerichtet, das Becken leicht gekippt; beide Füsse am Boden. Achte auch auf die Atmung: Es ist gut, wenn der Atem bis in den Unterbauch fliessen kann, nicht nur in den Brustbereich. Halte immer wieder mal inne und beobachte deine Haltung. Und steh ab und zu auf.»
Alex Porter
Alex Porter, Dozent «myFusion der fünf Elemente»
«Gutes Stehen kann man lernen, aber es braucht Zeit. Eigentlich ist das sogar ein Dauerbrenner. Der Anfang ist meistens etwas eigen, weil man von den Aussenmuskeln auf die Innenmuskeln übergeht. Dies fühlt sich für viele etwas ungewohnt an, aber bald hat man sich daran gewöhnt. Wenn du übrigens tatsächlich übst, wirst du schnell Fortschritte machen und dich bald mal fragen, warum man dir so etwas Lebenswichtiges nicht schon in der Schule beigebracht hat.
Beim Arbeiten: Ab und zu Stehpult. Viele der grossen Dichter haben genau dort kreiert. Das Stehen kannst du sehr wahrscheinlich, «abel nul wenn sehl gutel Lehlel», in jedem Tai Chi- und QiGong-Kurs lernen.»
Thomas Gisler
Thomas Gisler, Dozent «Statusadaptierte Trainings-Therapie STT®
«Was ist besser: Sitzen oder Stehen? – Oder ist womöglich beides nicht so gut? Die für den Menschen gute Antwort ist hier schnell gefunden: Beides ist nicht per se schlecht, ausser wenn die gewählte Variante zu lange dauert. Nicht die Position ist demnach das Problem, sondern die mehrheitlich statische Belastungsdauer dieser beiden Beanspruchungen.
Muskeln und Gelenke, welche über längere Zeit ohne entlastende Bewegungsvariationen beansprucht werden, zeigen sich zunehmend schmerzhaft. Das hat biochemische, strukturelle und neurogene Ursachen. So gesehen gibt es die gute Haltung also gar nicht, gut ist eine sich ständig wechselnde Haltung. Dabei ist die Bewegungsvielfalt bzw. der Haltungswechsel wesentlich wichtiger als die physiologisch korrekte Bewegung, Position oder Haltung.
Sicher ist langes Sitzen für den Körper etwas angenehmer als langes Stehen. Doch der Durchschnittschweizer sitzt zirka 11 bis 15 Stunden pro Tag, was in dieser Dimension eine Ursache für viele Erkrankungen darstellt. Präventiv machte man in gewissen Schulen den Versuch mit Sitzbällen. Das Experiment wurde aber aufgrund ermüdungsbedingter Schmerzen in den Haltungsmuskeln wieder abgebrochen. Der Trend zu Stehpulten in verschiedenen Büros ist in diesem Sinne ebenfalls kritisch zu beurteilen, wenn dabei die vom Körper akzeptierte Belastungszeit überschritten wird. Beim Stehen tritt dieser kritische Zeitpunkt im Vergleich zum Sitzen doch wesentlich früher ein. Hier bringt ein Wechsel zwischen Sitzen und Stehen zwar eine minime Besserung; nur von der Bewegungsvielfalt – im Sinne der körperlichen Ansprüche – ist man damit noch ziemlich weit entfernt.
Die meisten Ernährungsvorgänge im menschlichen Organismus sind auf mechanische Stimulationen – also Bewegung – angewiesen. Fehlen diese weitgehend, steigt damit das Risiko für Erkrankungen mit meist chronischem Verlauf.
Um auf die eingangs gestellten Fragen zurückzukehren, bleibt folgende Erkenntnis: Sitzen und Stehen gehören zu den Verhaltensmustern eines jeden Menschen. Doch beide Varianten bergen ein nicht zu unterschätzendes pathogenes Potenzial. Die Lösung ist und bleibt somit Bewegungsvielfalt und das heisst eben auch häufigen Haltungswechsel über den ganzen Tag verteilt, selbst dann, wenn man sich gelegentlich sogar in die sogenannten Lümmelpositionen begibt.»