«Den springenden Punkt finden.»
Luzern, 21. Januar 2010 – Gerd Wiesemann im Interview zu Schmerzbehandlungen in der TCM.
Gerd Wiesemann, mit einem Schlag ist TCM bei uns im Westen berühmt geworden, und zwar durch den Journalisten, der nach seiner Blinddarmoperation 1971 in Peking keine Schmerzmittel, sondern Akupunktur erhalten hatte. Wirkt TCM tatsächlich so stark gegen Schmerzen?
Akupunktur kann tatsächlich wie ein Schmerzmittel wirken, tut es aber leider nicht immer. In den allermeisten Fällen jedoch ist Schmerzbehandlung allein ja nur eine Symptombehandlung, und da ist es ja gerade die Stärke der TCM, die Ursachen der Schmerzen genau aufzuspüren. Dazu verfügt sie über sehr gute Diagnose- und Erklärungs- und Therapiemethoden, um Leute von Grund auf zu behandeln. Aber zuerst muss die Ursache gefunden werden. Sonst verschwindet zwar vielleicht der Schmerz, kommt aber kurze Zeitspäter wieder.
Viele Schmerzen scheinen aber keine nachweisbare Ursache zu haben, zumindest keine schulmedizinisch nachweisbare?
Das ist tatsächlich so, und häufig fehlt die Erklärung, was die Schmerzen verursacht. So gibt man Schmerzmittel, und diese Schmerzmittel kontrollieren dann das Symptom. Sie beseitigen aber nicht die Ursache, und wenn man Pech hat, dann verstärken die Schmerzmittel die Ursache: Die Schmerzen werden noch schlimmer. Dazu kommt: Was macht diese Chemie, die über Jahre oder Jahrzehnte eingenommen wird, eigentlich mit unserem Körper? Gerd Wiesemann im Interview zu Schmerzbehandlungen in der TCM.
Worauf legst du in „Schmerzbehandlung in der TCM“ besonderen Wert?
Zunächst einmal brauche ich Zeit, um den Patienten zu diagnostizieren. Das kann nicht hopplahopp passieren, selbst wenn man dies manchmal in China so sieht. Wie das Neijing sagt, braucht man einen ruhigen Raum, gute Lichtverhältnisse, und dann darf man sich von den vielen Angaben des Patienten nicht irritieren lassen. Mein Lehrer sagte immer: „grasp the key point“, suche nach dem springenden Punkt, dem Faktor, woraus sich alles erklären lässt. Alle Methoden zusammen, also Gesichtsdiagnose, Zungendiagnose, Pulsdiagnose, Palpitationen des Körpers, sie alle werden Licht ins Dunkle bringen. Manchmal braucht dies etwas Zeit, und Schmerzen, die Patienten vielleicht über Jahrzehnte haben, lassen sich kaum während einer einzigen Behandlung erklären und lindern, obwohl dies manchmal passiert.
Zur Diagnose gehört die Therapie. Wie steht es damit?
Die richtige Therapieauswahl ist natürlich sehr wichtig, und auch da ist Vorsicht geboten. Denn nicht immer sind Behandlungen, die einmal Erfolg gebracht haben, auch beim nächsten Mal noch anwendbar. So sind Akupunktur und Moxibustion zwar fantastische Methoden, sie können ein Problem aber auch verschlimmern. Patienten zum Beispiel, deren ganzes System enorm gereizt ist, brauchen wahrscheinlich keine Reiztherapie, wie es die Akupunktur ist. Also muss man die Therapie vorsichtig auswählen und sie achtsam ausführen.
Was können die TeilnehmerInnen nach der Weiterbildung direkt in ihren Praxisalltag umsetzen?
Eigentlich genau das, was ich zu Diagnose und Therapie gesagt habe. Zunächst geht es um die Voraussetzungen, die man sich schaffen muss, damit man zur richtigen Diagnose kommt. Zeit, zum Beispiel, ist wesentlich, doch es gibt noch anderes. Ebenfalls ist es äusserst wichtig, den richtigen Blickwinkel für den Patienten und das Problem zu erhalten. Es gibt ja eine Vielzahl von Schmerz-Differenzierungen, die wir im Kurs nicht nur diskutieren, sondern auch bewerten. Das öffnet den Horizont der Diagnose-Möglichkeiten, und das wiederum hilft, zu einer klaren und deutlichen Diagnose zu kommen. Wir gehen dann darauf ein, wie die geeignete Methode zu finden ist, und schauen, worauf bei äusseren Behandlungsformen wie Akupunktur, Moxa, Schröpfen, Schaben, Kräuterpasten, Kräuter-Kissen zu achten ist. Mein Anliegen ist es, dass die TeilnehmerInnen wesentliche Hilfen für ihre Diagnose und ihre Therapie erhalten.
Wie bist du selber zur TCM gekommen?
Ich habe mich früher gerne in den Kampfkünsten, im Wushu, getummelt. Einer meiner Lehrer hat einmal gesagt, es sei ziemlich einfach, jemandem eins auf die Mütze zu hauen, aber wenn er dann auf dem Boden liege, ihn wieder auf die Beine zu stellen, das sei viel schwerer. Dieser Lehrer hat uns auch gezeigt, wie man Leute versorgt und verarztet. Dieses Thema hat mich nicht losgelassen, und jetzt mache ich gerade selber meinen Doktor in TCM.
Zur Person
Gerd Wiesemann, 1961, ist TCM-Therapeut und -Lehrer in Bonn/ Köln. Für die neue Auflage 2010 des TCM-Leitfadens hat er die Kapitel Gesichtsdiagnose, Kräuterpräparationen (Pao zhi) und Kräuterkombinationen (Dui yao) verfasst. Gerd promoviert momentan in TCM in seiner zweiten Heimatstadt Hangzhou (China). Er unterrichtet regelmässig Weiterbildungen an der Heilpraktikerschule Luzern. Gerd Wiesemann lebt mit seiner Familie in der Nähe von Bonn auf dem Land.